Wenn das Kaufen zur Sucht wird

Eine Betroffene aus Kaiserslautern berichtet – An Weihnachten ist Gefahr des Rückfalls besonders groß

Glücksgefühl nur für einen kurzen Moment: Eine Frau bestellt auf dem nachgestellten Bild einen Fernseher im Internet. Foto: view

Wenn Marlies M. (Name geändert) an den weihnachtlich dekorierten Geschäften vorbeigeht, könnte sie schon rückfällig werden. „Kauf mich!“, locken die mit Gaben reich bestückten Auslagen. „Das kann mir gefährlich werden“, erzählt die 57-jährige Kaiserslautererin. „Deshalb schreibe ich mir auf eine Liste nur die Dinge auf, die ich brauche – und nehme meinen Mann oder meine Freundin sicherheitshalber zum Einkaufen mit.“ Jahrzehntelang war sie kaufsüchtig, häufte Geldschulden von 10000 Euro an, bis es schließlich zu einem wirtschaftlichen und körperlichen Zusammenbruch kam.

Marlies M. ging in eine dreimonatige Therapie und besucht regelmäßig die Suchtberatung der pfälzischen Diakonie in ihrer westpfälzischen Heimatstadt. „Das hat sehr gut geholfen, ich habe jetzt alles fest im Griff“, versichert sie. Erschütternd ist die Leidensgeschichte der Westpfälzerin, die so vielen anderen Leidensgeschichten von Suchtkranken ähnelt.

Besonders, wenn es ihr schlecht ging oder sie Stress hatte, zog sie los und kaufte ziellos ein – meist Lebensmittel. „Gab es etwa Joghurt im Angebot, nahm ich gleich eine ganze Palette mit“, sagt sie. Ein, zwei Becher nur wurden gegessen, der Rest landete im Müll. Auch Anerkennung und Zuneigung wollte sie sich erkaufen, wenn sie etwa den Nachbarn eines von vielen Päckchen Butter schenkte.

In den Schränken ihrer Wohnung hortete sie heimlich viele unnütze Dinge, die sie in Geschäften kaufte, aber vor allem über Kataloge und das Internet bestellte. Online-Banken gewährten gerne und ohne große Prüfungen Kredit. „Beim Kaufen war ich einen Moment happy, danach ging es mir schlecht“, sagt Marlies M. Von einer Sucht will sie bei ihrem zwanghaften Kaufverhalten jedoch nicht sprechen. „Es ist eine psychische Störung“, sagt sie. Schon ihre Mutter habe einen unnatürlichen Kaufdrang gehabt, dies habe sie wohl übernommen. Als Auslöser führt Marlies M. „eine Kindheit ohne Liebe“ an, sie wuchs bei den Großeltern auf. Vielleicht habe sich deshalb die Liebe zu ihrer eigenen Familie dadurch ausgedrückt, dass „immer alles da sein musste und nichts fehlen durfte“.

Vor ihren Arbeitskollegen konnte Marlies M. ihre Kaufsucht geheim halten. Die Familie schob das Problem trotz zweier „finanzieller Crashs“ lange auf die Seite. Als ihr jedoch ein drittes Mal die Schulden über den Kopf wuchsen, der Alkohol hinzukam und sie in eine tiefe Depression stürzte, gab es vor fast fünf Jahren den großen Krach. Den Ausschlag gab eine fehlgeleitete E-Mail an ein Kreditinstitut, die ihr Mann las. Marlies M. hatte um einen weiteren Kredit angefragt. „Man verstrickt sich und kommt dann nicht mehr aus dem Dilemma heraus.“ Banken und Geldinstitute ignorierten aus Gewinnsucht ein mögliches pathologisches Kaufverhalten ihrer Kunden, kritisiert sie.

Ihre älteste Tochter zog daraufhin die Notbremse. „Mutter, du brauchst Hilfe“, sagte sie und kümmerte sich um einen Therapieplatz. Die Tochter regelte alle finanziellen Dinge. Sie teilte das Geld ein und half ihr, eine Haushaltsliste mit Dingen zu führen, die wirklich angeschafft werden müssen. In der Therapie verinnerlichte Marlies M. ein „Ampelsystem“ für das Einkaufen: Rot für Sachen, die tabu sind, Gelb für „möglicherweise“ und Grün für „rein in den Warenkorb“. Es ist ein fester Wille nötig, um nicht rückfällig zu werden, betont Marlies M., die auch anderen Betroffenen helfen will.

Bei der pfälzischen Diakonie lässt sie sich ausbilden zur ehrenamtlichen Suchtkrankenhelferin. „Kaufsüchtige sollten professionelle Hilfe suchen und gemeinsam mit ihrer Familie ein Konzept für einen geregelten Alltag entwickeln“, rät sie. Bis heute plagt sie das schlechte Gewissen darüber, dass sie das Vertrauen ihrer Familie missbraucht habe. Was sie ihren Lieben zu Weihnachten schenken will, hat Marlies M. übrigens längst auf einer Liste notiert. „Das kleine Männel sitzt im Gehirn ganz unten“, sagt sie. Damit es mit seinen Kaufwünschen nicht wieder nach oben kommt, „muss man ein Leben lang an sich arbeiten“. Alexander Lang

Gemeinsam an Strategien zum Ausstieg aus der Sucht arbeiten

Sozialarbeiter beklagt zu wenig Hilfen für Kaufsüchtige – Wirtschaftspsychologe fordert Einüben von Konsumkompetenz schon im Kindesalter

Für Menschen, die unter einer Kaufsucht leiden, gibt es nach Einschätzung des Sozialarbeiters Christoph Einig zu wenige passende Hilfsangebote. Ein Grund sei, dass sich zu wenig Betroffene meldeten, sagt der Mitarbeiter der Suchtberatungsstelle der Diakonie in Kaiserslautern. Zum anderen gebe es zu wenige Fachleute, die sich mit zwanghaftem Kaufverhalten auskennen.

In der Ausbildung von Suchtberatern müsse dies verstärkt thematisiert werden, fordert Einig. Auch müssten sich die verschiedenen Einrichtungen der Suchberatung landesweit besser vernetzen. Für die Stadt und den Landkreis Kaiserslautern, für Kusel und den Donnersbergkreis ist Einig auch für Computer-, PC- und Onlinesucht zuständig. Wie bei anderen Suchterkrankungen dauere es oft lange, bis Betroffene den Weg in eine Suchtberatung oder eine Psychotherapie fänden, sagt Einig. Meist seien sie mindestens 40 Jahre alt. Vor allem Frauen nähmen bei zwanghaftem Kaufverhalten Hilfe in Anspruch. Kaufsucht sei vor allem eine Kompensation für andere Bedürfnisse.

Gründe für eine Kaufsucht seien etwa finanzielle Probleme oder die Partnerschaft. Beratungsgespräche könnten Betroffene in ihrem Leidensdruck entlasten, gemeinsam müsse eine Strategie zum Ausstieg aus der Sucht erarbeitet werden. Dabei gelte es, ein „normales Kaufverhalten“ einzuüben. Wichtig sei, ihnen klarzumachen, dass sie nicht allein seien. Berater vermittelten Kontakte zu Selbsthilfe- und Gesprächsgruppen oder eine stationäre Therapie in einer Reha- oder Suchtklinik, sagt Einig.

Bei Kaufsucht sei „Prävention vor Notfallmedizin“ nötig, betont der Ludwigshafener Wirtschaftspsychologe Gerhard Raab. „Schon im Kindergartenalter muss eine Finanz- und Konsumkompetenz eingeübt werden“, sagt der Wissenschaftler an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen, der seit 30 Jahren über Kaufsucht forscht. Dabei dürften aber auch die Eltern nicht aus ihrer Erziehungsverantwortung entlassen werden. Sie hätten beim Umgang mit Geld eine Vorbildfunktion, sagt Raab, der 1991 mit einem interdisziplinären Forscherteam die erste repräsentative Studie weltweit zur Kaufsucht vorlegte.

Die Zahl der Betroffenen habe in den vergangenen Jahren zugenommen. Untersuchungen mit der Com­pu­terto­mo­gra­fie zeigten bei kaufsüchtigen Menschen eine erhöhte Gehirnaktivität, wenn sie bestimmte Produkte betrachteten. Wissenschaftlich nicht völlig geklärt sei, ob es sich bei der Kaufsucht um eine Sucht, eine Zwangsstörung oder eine Impulskontrollstörung handele. Gegen den Konsumdruck könnten sich alle Konsumenten wehren, sagt Raab: mit bewusstem Kaufverzicht. all

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