Taub und deshalb ausgeschlossen

Sascha Nuhn sieht beim Thema Barrierefreiheit für Gehörlose in Deutschland noch extrem große Lücken

Haben Gebärdensprache gelernt, um mit gehörlosen Eltern besser kommunizieren zu können: Die Erzieherinnen Ulrike Lotterhoß (links) und Silke Hoffmann aus der protestantischen Kindertagesstätte Lambsheim. Foto: Bolte

Sieht in Deutschland Verbesserungsbedarf: Sascha Nuhn mit Gebärdensprachdolmetscherin Martina Ströhmann. Foto: epd

Irgendwann hat Sascha Nuhn es aufgegeben, auf große Familienfeiern zu gehen. Seine Verwandten können ihn einfach nicht verstehen, sagt der 41-Jährige. Nuhn wurde als gehörloses Kind von hörenden Eltern geboren, in seiner Familie kann niemand außer ihm die Gebärdensprache. „Mit zwölf, 13 Jahren saß ich auf den Feiern alleine in der Ecke und habe Gameboy gespielt“, sagt er. Gehörlose fühlten sich oft nicht dazugehörig, sowohl im privaten als auch im beruflichen und gesellschaftlichen Umfeld.

In Deutschland leben nach An­ga­ben des Deutschen Gehörlosen-Bunds 80000 Gehörlose und 140000 hörbehinderte Menschen, die im Alltag auf Gebärdensprachdolmetscher angewiesen sind. Gehörlosigkeit werde in 15 Prozent der Fälle vererbt. In den meisten Fällen entsteht sie laut Gehörlosen-Bund durch Erkrankungen, Medikamentenschädigung oder Probleme während der Geburt.

Bei Sascha Nuhn wurde die Behinderung im Alter von zwei Jahren entdeckt. Seine Eltern schickten ihn zum Logopäden, er sollte sprechen lernen. Auch in speziellen Förderschulen sei der Fokus lange auf das Erlernen der deutschen Sprache und das Trainieren des Restgehörs gesetzt worden, sagt der Frankfurter, der sich beim Hessischen Verband für Gehörlose und hörbehinderte Menschen engagiert. „Die Gehörlosenpädagogik in Deutschland wurde von Hörenden entwickelt“, sagt er. Das Ziel sei eine Anpassung der Kinder an die hörende Gesellschaft gewesen.

Noch heute ist es nach Angaben des Goethe-Instituts keine Selbstverständlichkeit, dass taube Kinder in Gebärden unterrichtet werden. Die Schüler müssten dann von den Lippen ablesen. „Das ist nicht nur extrem anstrengend, sondern auch ungenau“, sagt Nuhn. Selbst erfahrene Lippenleser erkennen nur etwa 30 Prozent des Gesprochenen eindeutig, die restlichen 70 Prozent müssen erraten werden.

Durch diese Kommunikationsbarriere gingen Inhalte verloren, sagt Nuhn. ­Dazu hätten viele Gehörlose eine Lese-Rechtschreibschwäche, weil sich die Grammatik der Gebärdensprache so grundlegend von der der deutschen Schriftsprache unterscheidet. In Deutschland schafften nur wenige Taube einen Realschulabschluss. Im Ausland sei das anders: In den USA gebe es in Washington beispielsweise eine Universität für Gehörlose mit rund 40 Bachelorprogrammen.

Nach der Schule haben es Taube laut Nuhn, der als einziger Gehörloser deutschlandweit in einem Stadtparlament sitzt, schwer, einen Ausbildungsplatz und eine gute Anstellung zu finden. „Ein Großteil arbeitet in Berufen, in denen Kommunikation nicht so wichtig ist“, sagt er. Vielen Gehörlosen fehle im Bewerbungsgespräch Selbstvertrauen, Arbeitgebern die Erfahrung.

Grundsätzlich stünden Gehörlosen nach Angaben der Integrationsämter viele Berufsbilder offen – unter den richtigen Voraussetzungen. Dazu gehörten unter anderem günstige Lichtverhältnisse, um das Lippenlesen zu erleichtern und technische Arbeitshilfen wie optische Signale an Maschinen. Genaue Zahlen zur Arbeitslosigkeit unter Gehörlosen gibt es der Agentur für Arbeit zufolge nicht. Schwerbehinderte seien aber generell häufiger arbeitslos als Menschen ohne Beeinträchtigung.

Privat sei es für Menschen mit Hörbehinderung ebenso schwierig, etwas Neues zu lernen, sagt Nuhn. So seien nur wenige Museen für Gehörlose barrierefrei. Zeitungs- und Zeitschriftenartikel seien für Gehörlose aufgrund der weit verbreiteten Lese-Rechtschreibschwäche nur schwer verständlich. „Viele lesen die ,Bild‘, weil sie einfach geschrieben ist und Schlagwörter markiert werden.“ Auch die Untertitel im Fernsehen seien in der in Deutschland üblichen Blockform nicht ideal, insbesondere bei Live-Übertragungen.

Nuhn fordert, dass mehr Informationen in Gebärdensprachvideos übersetzt und mehr Fernsehübertragungen live gedolmetscht werden. Zudem müssten Hörende schon im Kindergarten und in der Schule für den Umgang mit Gehörlosen sensibilisiert werden. „Wenn beide Seiten offen an ein Gespräch herangehen, kann der Austausch zwischen Hörenden und Gehörlosen gut funktionieren.“ Jana-Sophie Brüntjen

Barrierefrei im Kindergarten

Erzieherinnen in Lambsheim sind für Gehörlosigkeit sensibilisiert

Für den Umgang mit Gehörlosen sensibilisiert sind die Mitarbeiterinnen in der protestantischen Kindertagesstätte Lambsheim. Zwischenzeitlich besuchten Kinder zweier gehörloser Elternpaare die Einrichtung, eines davon selbst gehörlos. Die Eltern des gehörlosen Kindes hätten sich bewusst für die Regeleinrichtung entschieden, sagt Einrichtungsleiterin Renate Kärcher.

Die größte Herausforderung habe in der Kommunikation mit den Eltern bestanden. „Wir konnten uns anfangs nicht vorstellen, was Barrierefreiheit im Alltag für einen gehörlosen Menschen bedeutet“, sagt Erzieherin Anita Hoffmann. Für das Team bedeutete das etwa, Veranstaltungen für Eltern bei genügend Licht stattfinden zu lassen, damit diese von den Lippen ablesen könnten. „Gegenüber sitzen, kurze Sätze, keine Schachtelkonstruktionen“, nennt Erzieherin Ulrike Lotterhoß weitere Empfehlungen. Pfarrer Friedhelm Zeiß, Beauftragter für Gehörlosenseelsorge in der Landeskirche, unterstützte die Einrichtung, indem er einen Weihnachtsgottesdienst dolmetschte.

Eltern und Erzieherinnen lernten in zwei Kursen Gebärdensprache, was in der Praxis Überwindung koste, aber letztlich die Kommunikation verbessert habe, erklären die Erzieherinnen. Die Einrichtung versuchte außerdem, die Kommune auf die Bedürfnisse von Gehörlosen aufmerksam zu machen. Bei der Lambsheimer Filmnacht laufen Filme so künftig mit Untertiteln. flor

Digitales Übersetzungsprojekt

An der Universität Siegen haben Wissenschaftler in einem von der EU geförderten Projekt ein Programm entwickelt, das Text in Gebärdensprache übersetzt. Dafür wurde eine Datenbank mit rund 300 Wörtern gefüllt und mithilfe eines Avatars in Gebärden übersetzt. Zwei Demonstrationspiloten werden in einer U-Bahn-Station in Porto und an europäischen Schulen für Gehörlose getestet, in Deutschland am Rheinisch-Westfälischen Berufskolleg Essen.

Für den Alltag entwickelten die Wissenschaftler zusätzliche Anwendungen, beispielsweise eine Mobile-App und Plugins für Powerpoint-Folien, erklärt die wissenschaftliche Mitarbeiterin Daniela Escobar. „Aus unserer Sicht waren die wichtigsten Ergebnisse nicht der Avatar oder die Anwendungen, sondern die Bestimmung der Bedürfnisse einer solchen Technologie im Alltag für Gehörlose“, sagt Escobar. Dabei solle der Avatar nicht Gebärdensprachdolmetscher ersetzen. Das Anliegen sei, „Technologien zur Verbesserung der Integration von Gehörlosen in alltägliche Aktivitäten zu entwickeln“. Für die Weiterentwicklung ist das Team auf der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten. Die größte Herausforderung sei aktuell die Übersetzung von Gebärden in Text, sagt Escobar. Hier ist die Einbindung einer Smartphone-Kamera denkbar. flor

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