Not lehrt beten

von Kirchenpräsident Christian Schad

Betende Hände von Albrecht Dürer. Zeichnung von 1508, das Original befindet sich in der Albertina in Wien. Foto: wiki

Not lehrt beten. Zweifellos. Das haben wir nicht nur als Sprichwort gelernt. Sondern das erfahren wir in der gegenwärtigen Krise, in der Hilflosigkeit dem Coronavirus gegenüber, unmittelbar. Alles, was ist, legen wir jetzt in Gottes Hände: unser Fragen, unser Suchen, meine Angst, auch Hoffnung und Zuversicht und unseren Dank. Mit all’ dem liefern wir uns Gott aus. Vertrauen uns ihm an, gerade auch mit dem, was wir nicht verstehen. Sagen, was uns im Innersten bewegt. Für einen Moment werden wir still und atmen durch. Etwa so:

„Allmächtiger, barmherziger und liebender Gott! Wir bitten dich: Sei du da. Sei nahe den Menschen, um die wir uns sorgen: Eltern, Kinder, Großeltern, Freundinnen und Freunde; auch denen, die auf der Flucht sind oder auf der Straße leben müssen. Wir bitten dich für die Erkrankten: Halte mit ihnen aus und trage sie durch. Gott, wir danken dir für die Menschen, die jetzt da sind für Andere, die helfen, unterstützen, pflegen – in den Kliniken, den Altenheimen, den Sozialstationen. Sie tun ihren Dienst rund um die Uhr, bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Stärke sie und sei du ihnen Halt. Wir bitten dich auch für uns: Lass deine Hoffnung über uns strahlen wie die Sonne. Und schenke uns Raum, dass wir besonnen bleiben und unsere Hilfe anbieten, wo immer wir gebraucht werden. Wir danken dir, Gott, dass du uns hörst.“

Das Gebet – der Atem des Glaubens: Die Gottes Anruf erfahren haben, rufen ihn wieder an. Die sein Schweigen erleiden, ersehnen den Augenblick, in dem er es beendet. Die nicht mehr aus noch ein wissen, verlangen nach dem, dessen Glanz alle Finsternis verzehrt. Und „Gott!“, dieses Wort des Anrufs, immer wiederholt, ist ein einziger Schrei nach Hilfe.

Beten heißt: sich auf ein Gehörtwerden, auf ein lebendiges Du einlassen. Gott ist nicht stumm. Ruht nicht selbstgenügsam in sich, sondern nimmt Anteil. Hört mit, leidet mit, freut sich mit. Er ist Mensch geworden. Auf den Straßen unseres Glücks und unseres Unglücks ist er gelaufen. Er hat die Spur seiner Güte eingeschrieben in diese Welt – im Schicksal jenes konkreten Menschen: Jesus von Nazareth. Und als man der Gegenwart des Reiches Gottes in seiner Person den Garaus machen wollte, hat er im Kreuz Jesu selbst den Tod überwunden, indem er ihn in sein göttliches Leben mitnahm, um ihn ewig an sich zu binden. In der Auferweckung Jesu von den Toten hat er sich endgültig gezeigt: als Gott des Lebens, der will, dass wir sein Leben mit ihm teilen.

Wie immer es uns also gehen mag im Lauf unserer Tage, die Beziehung zu Gott ist ungebrochen, und zwar von ihm her. Was wir auch tun, was uns auch widerfahren mag, alles ist in Gottes Gegenwart geborgen. Das gilt, solange wir auf Erden leben – und gilt erst recht darüber hinaus. Denn „nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Römer 8, 39).

Darum ist es gut, auch unsererseits den Faden nicht abreißen zu lassen. Auch wenn wir erschüttert sind, wir geben die Beziehung zu Gott nicht auf, solange wir beten. Wir gehen aus uns heraus und versichern uns bittend, klagend, dankend seiner Nähe. Wir sind gewiss: Er hört! Er lässt sich berühren von unserer Stimme, auch wenn unsere Bitten nicht umstandslos erfüllt werden. Gerade wo irdische Bindungen nicht mehr tragen, wo wir selbst nichts mehr erwarten, erwarten wir IHN. Halten wir an der Hoffnung fest für uns und für Andere. Im Gebet nehmen wir wahr, wie Gott die Welt gemeint hat, dass wir nicht gleichgültig werden oder verzagen.

Und wenn uns die Worte fehlen, weil Trauer und Leid die Kehle zuschnüren? Dann treten wir schweigend vor Gott – oder leihen uns gegebene Sprache: die Psalmen etwa oder das Vaterunser oder Luthers Morgen- und Abendsegen, in der Erwartung, dass wir obdachlos Gewordene dort Zuflucht nehmen können, in diesen Sprachkammern eine Herberge innerer Weiträumigkeit antreffen werden. Und selbst, wenn das Ver-sagen sich erst langsam löst und das Herz den Worten nicht gleich nachkommt, dann ziehen unsere Lippen das dürre Herz hinter sich her, bis es wieder kräftig ist und auf eigenen Beinen zu stehen vermag.

Feste, immer wiederkehrende Zeiten helfen ebenfalls dabei, zur Ruhe zu kommen und mit dem Beten vertrauter zu werden. Derzeit sind uns die Glocken die besten Gehilfen. Sie rufen uns – auch ökumenisch – zum individuellen Gebet und vereinen uns zu einer weltweiten, alle räumlichen und zeitlichen Grenzen überschreitenden Gebetsgemeinschaft. Es ist Gottes Geist, der alle betenden Menschen miteinander verbindet und auch für die eintritt, die nicht beten können. Was für ein Segen – jetzt, da es uns verwehrt ist, sich gemeinsam zu versammeln!

In meinem Kinderzimmer hingen einst Dürers „Betende Hände“, ein Geschenk meiner Großeltern. In diesem Bild liegen die Hände zart aneinander. Sie berühren sich kaum. Eine Hand spürt die Wärme der anderen. Ich bin überzeugt, wir brauchen solche Gesten nach außen, auch für uns selbst. Damit wir uns nach innen auf das einstellen können, was jetzt dran ist. Alle Gebetshaltungen, bei denen die Hände aneinander- oder ineinander liegen, haben ihren Ursprung in einem Symbol: Die von Herzen kommende Hand des Gefühls fasst die Arbeitshand, sodass das Arbeiten für einen Moment zur Ruhe kommt. Das Gebet ist heilsame Unterbrechung, ist Zeit in der Zeit, in der ich mich öffne für den Grund und den Ursprung allen Lebens, für Gott. Betend kann ich mich selbst vergessen, um alles in die Arme Gottes zu werfen. So entlastet, finde ich neuen Mut. Und ich lasse mir von Gott die Augen öffnen dafür, was ich jetzt gerade tun kann. Indem meine Hände „zum Beten ruhn“, so sagt es Jochen Klepper in einem seiner Lieder, werden sie „stark zur Tat“ (EG 457, 11).

In diesem Sinn ist Beten ein handwerklicher Akt. Martin Luther formuliert es so: „Wie ein Schuster einen Schuh macht und ein Schneider einen Rock, so soll ein Christ beten. Eines Christen Handwerk ist beten.“ Gebe Gott, dass jetzt für diese Welt, indem wir sie ins Gebet nehmen, ein neuer Horizont aufscheint: das Land, in dem die Blinden sehen und die Stummen reden, in dem die Kranken geheilt und alle Tränen abgewischt sein werden.

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