Nicht aufhören mit dem Singen

Der Neustadter Kai Koch erforscht die Entwicklung der Stimme im Alter – Seminare stark nachgefragt

Widmet sich einer stetig wachsenden Zielgruppe von Sängern: Kai Koch. Foto: LM

Der ehemalige Bad Dürkheimer Bezirkskantor Jürgen E. Müller ist vor vielen Jahren schon vorangeschritten. Er hat seine etwas in die Jahre gekommenen Kantoreimitglieder nicht einfach in die ehrenamtliche Rente geschickt, sondern kurzerhand die „Derkemer Spätlees“ gegründet; und damit ein Alleinstellungsmerkmal in der kirchenmusikalischen Landschaft der Pfalz behauptet. Sein Nachfolger im evangelischen Kantorat des Kirchenbezirks, Johannes Fiedler, hat die Chorveteranen mit Begeisterung übernommen.

Mit der „Landauer Seniorenkantorei an der Stiftskirche“ haben die „Derkemer“ ab diesem Januar endlich eine Schwester bekommen. Noch klein und im Aufbau, „aber das wird“, ist sich Stifts- und Bezirkskantorin Anna Linß sicher hinsichtlich des frisch gekürten, im Übrigen ökumenischen Ensembles. Es sei ein Gebot der Stunde, findet sie. „Menschen werden immer älter, sind zusehends aktiver, mobiler und aktionsfreudiger.“

Die rein physischen Gegebenheiten hielten da nicht immer in gewünschtem Maße mit. Die Stimme etwa verliere im Alter an Strahlkraft, der Stimmumfang verringere sich, die Atmung brauche kleinere Intervalle und vieles mehr. „Dennoch: Wer sein Leben lang im Chor gesungen hat, damit auch einen reichen Schatz an Literatur und Erfahrung gehortet hat, will doch nicht plötzlich damit aufhören, nur weil die Hüfte beim langen Stehen im Konzert schmerzt oder die Augen der winzigen Notenschrift nicht folgen können.“

Entscheidende Anregung hatte Linß durch einen Workshop bei Kai Koch im Sommer 2018 erfahren. Der Gerontologe mit Schwerpunkt „Singen im Alter“, Professor an der Katholischen Stiftungshochschule München ist schließlich einer, der es wissen muss; einer, der ungeachtet seiner erst 31 Jahre schon lange fasziniert auf das Alter und seine musikalischen Bewegungsräume blickt.

Geboren wurde Koch im nordrhein-westfälischen Höxter, wuchs praktisch mit Kirchenmusik auf. Die C-Prüfung als nebenamtlicher Kirchenmusiker absolvierte er am Kirchenmusikalischen Fortbildungszentrum Schlüchtern. Von da an versah Koch Orgeldienste, leitete Chöre an jedem Ort, der Schule und Studium vorhielt: Münster, Paderborn, Hannover. Erziehungswissenschaften, Schulmusik und Chemie lautete der ungewöhnliche Fächerkanon.

Die stark forschungsbezogene Staatsarbeit „Stimmfeldmessungen im dritten Lebensalter“ sicherte das erste Staatsexamen zum Lehramt an Gymnasien; den Masterstudiengang „Musik und Kreativität“ schloss Koch 2012 „mit Auszeichnung“ ab; einen weiteren 2015 – diesmal an der Musikhochschule Berlin – mit dem schon berufswegweisenden Thema „Altersgrenzen in Chören“.

Zwischen und während des Referendariats in Münster und dem Einsatz als Studienrat im Evangelischen Trifels-Gymnasium in Annweiler, wo er einen Kammerchor gründete, betätigte sich der junge Musiker ebenso aktiv als Dozent wie auch an der Basis. Und bis heute versieht er im Wechsel mit Kantorin Carola Bischoff den Orgeldienst an der Pauluskirche Neustadt-Hambach, seinem Wohnort.

Sein Promotionsstudium Musikpädagogik an der Universität Paderborn schloss Koch im Sommer 2017 zum Thema „Seniorenchorleitung – Empirische Studien zur Chorarbeit mit älteren Erwachsenen“ mit „summa cum laude“ ab. Und der Mut zur Bewerbung auf die Professur „Musikpädagogik in der sozialen Arbeit“ an der Katholischen Stiftungshochschule München belohnte den Newcomer prompt mit einem Ruf ins Amt.

Dass er seine Schulgemeinschaft in Annweiler vermisst, daraus macht Kai Koch, verheiratet mit einer Chemikerin bei der BASF und Vater eines 14 Monate alten Sohns, keinen Hehl. „Aber es war dann okay, direkt nach der Elternzeit in die Universitätslehre zu wechseln.“ Ein umfassender, im Übrigen stark soziologisch durchwirkter Bereich, der auch andere Schwerpunkte setzt, etwa die Bedeutung von Musik für Demenzkranke oder in der Behindertenpflege.

Ein inzwischen stark nachgefragter Bereich von Kochs Wirken sind die Wochenendseminare, die er im Zuge seiner Dozententätigkeit im Fachbereich „Musikgeragogik“ an der Fachhochschule Münster bundesweit anbietet. „Man muss eben wissen, wie eine Singstimme im Alter funktioniert. Sie wird nicht zwangsläufig schlechter, nur anders“, bekräftigt Koch. „Und da lässt sich mit entsprechendem Stimmtraining und einer Literatur, die diese Veränderungen berücksichtigt, geradezu zaubern. Ohne dass die Stücke platt und ereignislos daherkommen.“

Der Eintritt in die Seniorenkantorei als echte Alternative, so weiß Koch, erleichtert das Abschiednehmen ohne Groll aus der gewohnten Gemeinschaft. „Nicht Abstieg, sondern Alternative“, lautet sein qualitätsorientierter Slogan. „Deshalb ist es gut, wenn die Seniorenformation Chefsache bleibt. Und das neue Ensemble sich regelmäßig öffentlich präsentiert.“ Gertie Pohlit

Seniorenkantorei Landau, Probe jeweils mittwochs, 11 bis 12 Uhr, Gemeindehaus, Stiftsplatz 9.

Onlineportal informiert über Chorliteratur

Hilfe für Einsteiger in Sachen Seniorenchor liefert ein von Kai Koch und seinem Kollegen Hans Hermann Winkel im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Musikgeragogik entwickeltes Onlineportal. Es informiert über bislang erschienene Publikationen. Praxishilfen sind dabei, und die mit prägnanten Kurzrezensionen versehenen Chor- beziehungsweise Liederbücher – sämtlich während der vergangenen knapp vier Jahre ediert – dokumentieren, wie stark das Thema Seniorengesang sich im Aufwind befindet.

Das Angebot reicht von mehrstimmiger A-cappella-Musik, sowohl sakral wie auch volkstümlich, bis zu Liederbüchern, die beispielsweise klavier- oder gitarrenbegleitete Melodien mit Überstimme anbieten. Großdruck, versteht sich. Von Sätzen fürs Kirchenjahr über Madrigale und Volkslieder bis zu Schlagern und Pop ist alles dabei. Griffige Titel wie „Einfach singen“, „Silberklang“, „Weitersingen!“ oder „Käthe, mach die hundert voll“ signalisieren plakativ: Hier ist euer Liederbuch – damit seid ihr weiterhin mit von der Partie.

Aber auch die jeweiligen Satzweisen der Bearbeiter – und das ist das eigentlich Entscheidende – befassen sich einfühlsam mit der Zielgruppe. Sie nehmen die Einschränkungen im Stimmumfang ebenso ernst wie die häufiger benötigten Atemzeichen. Und vermitteln dennoch im Ergebnis ein wunderbar üppiges Spektrum an spannender, anspruchsvoller Vokalmusik.

Wer sich umschauen möchte, wo in der Nähe sich schon ein Seniorenchor formiert hat, erhält ebenfalls Einblick. Eine interaktive Karte präsentiert die Seniorenchorlandschaft der Bundesrepublik anschaulich. Relativ dicht „besiedelt“ sind Hessen und Nordrhein-Westfalen. Nach Süden hin nimmt der Input merklich ab. Alzey, Ludwigshafen und jenseits der Rheingrenze Lampertheim und Walldorf lassen sich aufspüren. Die „Derkemer Spätles“ hält seit Jahren schon einsam die Fahne im kirchlichen Kontext hoch. gpo

www.singen-im-alter.de

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