Marx ante Porta

Auf den Spuren des Kapitalismuskritikers • von Rainer Clos

Auf den Spuren Marx’: In einer Trierer Buchhandlung wird der Kapitalismuskritiker mit Sparbüchsen vermarktet. Foto: M. Hoffmann

Das ehemalige Wohnhaus von Marx in Trier: Heute residiert dort ein Ein-Euro-Shop. Foto: M. Hoffmann

Heute Sitz der Friedrich-Ebert-Stiftung: Marx' Geburtshaus besuchen pro Jahr rund 40000 Touristen, ein Viertel davon aus China. Foto: M. Hoffmann

Ein Gespenst geht neuerdings um in Europa. Seit der Finanzkrise, die einige europäische Staaten in den Abgrund blicken ließ, erfährt die Kapitalismuskritik von Karl Marx, den viele nach dem Ende des Kalten Kriegs bereits abgeschrieben hatten, ein überraschendes Comeback. Für neuen Schub sorgt, dass sich am 5. Mai der Geburtstag des Philosophen, Journalisten und Gesellschaftsana­lytikers zum 200. Mal jährt.

In Trier, wo Karl Marx das Licht der Welt erblickte, wird an einigen Stellen noch gewerkelt. Etwa am Simeonstiftplatz, wo eine Baugrube ausgehoben ist. Dort soll zum Geburtstag eine 4,40 Meter hohe Marx-Statue ihren Standort finden – ein Geschenk der Volksrepublik China an die Stadt. Entworfen und angefertigt wurde die Bronzeskulptur vom chinesischen Künstler Wu Weishan.

Neben der römischen Vergangenheit gehört der Kapitalismuskritiker unbestritten zum Kapital, von dem die wohl älteste Stadt in Deutschland touristisch zehrt. Eine große Landesausstellung und ein üppiger Mix an Veranstaltungen werden zu Ehren des weltberühmten Sohns ausgerichtet. Die Industrie- und Handelskammer Trier hat schon mal überschlägig gerechnet: Im Marx-Jahr könnte mit 200000 Ausstellungsbesuchern gerechnet werden, die Wertschöpfung wird auf sieben Millionen Euro geschätzt.

Weniger zwar als bei den Historienausstellungen über Kaiser Konstantin und den Tyrannen Nero, mit denen Trier zuletzt punktete. Auch bleiben die Zahlen wohl hinter denen der Heilig-Rock-Wallfahrt 2012 zurück, die mehr als eine halbe Million Pilger nach Trier führte. Nein, es erwarte die Besucher kein Marx-Kult und auch keine „Weltausstellung des Marxismus“, wird versichert. Doch welche Spuren von Marx, der Trier mit 17 Jahren in Richtung Bonn verließ, in Köln, Paris, Brüssel und London seine revolutionären Theorien entwarf, lassen sich in der Stadt an der Mosel noch finden?

Beim ZDF-Ranking „Unsere Besten“ kam der Verfasser des „Kommunistischen Manifests“ 2003 hinter Konrad Adenauer und Martin Luther auf den dritten Platz. Als vier Jahre später die Rheinland-Pfälzer aufgerufen waren, die 100 größten Landeskinder auszuwählen, reichte es für Karl Marx noch für Platz sieben – vor dem gleichaltrigen Genossenschaftsgründer aus dem Westerwald, Friedrich Wilhelm Raiffeisen, und hinter dem Schauspieler Mario Adorf, der gerade in einem Doku-Drama mit dem Arbeitstitel „Der deutsche Prophet. Die letzte Reise des Karl Marx“ den alternden Philosophen mimt und für den damit ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung geht.

Am Internationalen Frauentag, ein trüber Märztag, ist Marx in der lang gezogenen Fußgängerzone unterwegs. Zumindest in Gestalt einer ein Meter hohen Figur aus der Werkstatt des Konzeptkünstlers Ottmar Hörl. Anhänger der Linkspartei haben ihn in einen Bollerwagen platziert und sorgen bei den Passanten für Aufmerksamkeit. Seit März signalisiert Marx mit Rauschebart und Gehrock in leuchtendem Rot und Grün Fußgängern in Trier, wann sie die Straße überqueren dürfen. Am Simeonstiftplatz ist eine Fußgängerampel mit einem Konterfei des berühmten Philosophen versehen. Im Touristenbüro neben der Porta Nigra, dem Wahrzeichen der Stadt, die in Marx’ Geburtsjahr knapp 10000 Einwohner zählte, können Besucher eine Stadtführung buchen, die Aufklärung darüber verspricht, wie der Moselwein Karl Marx zum Kommunisten machte.

Natürlich fehlen nicht die Marx-Devotionalien: So ziert sein Porträt Kaffeebecher, Pfefferminzdosen, Postkarten, Schokolade, Quietscheenten, Magnete und Maus-Pads. Im Angebot sind Büsten mit seinem Konterfei und ein roter „Karl-Marx-Wein“, für den es sogar einen biografischen Anknüpfungspunkt gibt. Hatte doch Vater Heinrich Marx zusammen mit dem Arzt Julius Berncastel um 1830 einige Weinbergsflächen bei Kürenz und Mertesdorf erworben.

Zu den Marx-Hotspots gehört gewiss das Geburtshaus, zu dem jährlich rund 40000 Besucher pilgern, davon jeder Vierte aus China. Im Haus Brückenstraße 10, das sich in der Obhut der Friedrich-Ebert-Stiftung befindet, wird gerade eine neue Dauerausstellung vorbereitet. Als drittes von neun Kindern des Rechtsanwalts Heinrich Marx und dessen Frau Henriette kam Karl Marx in diesem Haus am 5. Mai 1818 auf die Welt. Beide Eltern entstammen Rabbinerfamilien. Kurz vor Karls Geburt war Heinrich Marx zum protestantischen Glauben übergetreten, da er ohne Taufe in der preußischen Rheinprovinz kein öffentliches Amt hätte ausüben können. Zusammen mit vier Geschwistern wurde der sechsjährige Karl Marx am 24. August 1824 evangelisch getauft.

Für 93739 Goldmark kaufte die SPD 1928 das Geburtshaus. Nach umfassender Rekonstruktion kam es allerdings nicht mehr zur Eröffnung des geplanten Museums des Marxismus. Denn im Mai 1933 beschlagnahmten die Nationalsozialisten das Barockhaus, es wurde Verlagssitz der NS-Zeitung „Trierer Volksblatt“. Mit Unterstützung der französischen Sozialisten wurde das Haus nach Kriegsende repariert und im Mai 1947 wiedereröffnet. Wie sehr sich die Geister in Trier an Marx über lange Zeit schieden, zeigt ein Stadtratsbeschluss aus demselben Jahr: ein Abschnitt der Brückenstraße bis zur Römerbrücke wurde in Karl-Marx-Straße umbenannt, aber das kurze Stück mit der Geburtsstätte behielt seinen Namen.

Schräg gegenüber dem Marx-Haus liegt die „Ile de Ré“, eine gut sortierte Buchhandlung. Inhaberin Regine Ebel registriert bisher keine exzeptionell gestiegene Nachfrage nach Marx-Literatur, weder nach den Blauen Bänden noch nach den neuen Biografien. Besser gefragt seien hingegen Büsten aus Keramik, als Kapital-Sparbüchsen geeignet. Chinesen beließen es nach dem Besuch des Geburtshauses meist bei Selfies und „verirrten“ sich kaum in die Buchhandlung. Im Verhältnis Triers und seiner Bürger zu dem weltberühmten Sohn der Stadt habe lange Entfremdung geherrscht, sagt Ebel. Mittlerweile sei der Umgang etwas unbefangener.

Dies bestätigt auch Christian Henniger. Der Pastor der Freien Evangelischen Gemeinde Trier ist seit zwei Jahren Vorsitzender der Interessengemeinschaft Karl-Marx-Viertel, ein Zusammenschluss von Geschäften, Galerien, Einzelhändlern, Handwerksbetrieben und Gastronomen zwischen Viehmarkt und Mosel. Die Initiative macht sich dafür stark, ein bisher namenloses Plätzchen nach Marx zu benennen. Bedenken der Verwaltung gegen eine Umbenennung überzeugen Henniger nicht. So habe es die Stadt doch zum Reformationsjubiläum 2017 auch geschafft, an der Konstantin-Basilika einen „Martin-Luther-Platz“ auszuweisen.

Theresia Görgen ist eine überzeugte Linke und hat das „Kommunistische Manifest“ mit 15 gelesen. Die 60-jährige Pädagogin ist Fraktionssprecherin der Linkspartei im Stadtrat von Trier. In das enge Fraktionsbüro mit viel Papier und einem Marx-Porträt an der Wand gelangt der Besucher – natürlich – über die Karl-Marx-Straße. Nein, der Philosoph ist für Görgen keineswegs ein „toter Hund“. Vielmehr müsse Marx aus der „Besenkammer“ geholt werden, „in der er 200 Jahre verstaubt und unbeachtet herumgestanden hat“, sagt die Kommunalpolitikerin. Als Schande empfindet sie es, dass das Erdgeschoss des einstigen Wohnhauses der Familie Marx in der Simeonstraße 8 nunmehr als Filiale des Billig-Discounters „EuroShop“ ist. Dort angebotene Waren seien unter Arbeitsbedingungen produziert, die schon Marx gegeißelt habe.

Im Herbst 1819 erwarb die Familie ein kleineres Wohnhaus in unmittelbarer Nähe der Porta Nigra. An der Adresse gibt eine kleine Gedenktafel Auskunft, dass Karl Marx hier bis 1835 lebte. Zur Schule hatte es Karl nicht allzu weit. Von der Simeonstraße führt der Schulweg schnurstracks über den Hauptmarkt in die Brotstraße zum ehemaligen Jesuitenkolleg. Nach der Franzosenzeit war es Königlich-Preußisches Gymnasium, ab 1896 Friedrich-Wilhelm-Gymnasium – mit prächtiger Promotionsaula und barocker Bibliothek. Mit 32 Mitschülern, von denen die Hälfte ins Priesteramt strebte, legte Marx 1835 hier das Abitur ab.

An Palmsonntag 1834 wurde Karl Marx in der an das ehemalige Gymnasium angrenzenden Jesuiten- oder Dreifaltigkeitskirche konfirmiert. Die ehemalige Klosterkirche, in deren Krypta der Jesuitenpater und Bekämpfer der Hexenverfolgung Friedrich Spee von Langenfeld beigesetzt ist, musste den politischen Umwälzungen Tribut zollen: Ab 1779 war sie Seminarkirche des Bischöflichen Priesterseminars, in der französischen Zeit „Tempel der Vernunft“, um 1819 Simultankirche und danach bis 1856 protestantische Kirche.

Am Sitz der Volksbank in der Neustraße erinnert eine Tafel an Jenny von Westphalen, die Ehefrau von Karl Marx. An diesem Ort befand sich das Haus der Familie Westphalen. Nach der Marx-Gattin, die als Johanna Bertha Julie Jenny von Westphalen am 12. Februar 1814 in Salzwedel geboren wurde, ist auf dem Trierer Petrisberg zudem eine Straße benannt. Nach siebenjähriger Verlobung wurde aus Fräulein Jenny, Karls Jugendliebe, die er noch Jahrzehnte später als „das schönste Mädchen von Trier“ rühmte, am 19. Juni 1843 Frau Marx. In Bad Kreuznach wurde die Ehe zunächst auf dem Standesamt geschlossen, danach wurde das Paar in der Kreuznacher Pauluskirche kirchlich getraut. Die Hochzeitsreise führte über die Ebernburg, Bingen und die Schweiz nach Baden-Baden.

Mit der Regelmäßigkeit, in der das Ungeheuer von Loch Ness auftaucht, ist in Trier der Ruf zu vernehmen, die vor einem halben Jahrhundert neu gegründete Universität nach Karl Marx zu benennen. Für Universitätspräsident Wolfgang Jäckel ist die Sache für das Marx-Jahr klar: Ein Namenspatron Marx liefert für die Hochschule keinen Mehrwert. Universitäten im 21. Jahrhundert seien nicht Anwälte bestimmter Ideen oder politischer Überzeugungen, gefragt sei vielmehr Offenheit statt Verengung.

Als entkrampft nimmt Beatrix Bouvier, wissenschaftliche Leiterin der Landesausstellung, den Umgang in Trier mit Marx wahr. Er sei ein streitbarer Geist gewesen, und deshalb sei es selbstverständlich, dass es neben dezidierten Fans auch Kritiker gebe. Die Historikerin, die ein Jahrzehnt das Karl-Marx-Haus leitete und für Veranstaltungen öffnete, führt die entspannte Begegnung darauf zurück, dass die Annäherung an den Denker Marx nicht mehr von der Folie des Kalten Kriegs verdunkelt werde.

Entspannt ist auch der Umgang der katholischen Kirche mit dem Philosophen. Das Bistum Trier ist wie die Friedrich-Ebert-Stiftung Kooperationspartner der Ausstellungsgesellschaft, die das Marx-Jubiläum vorbereitet. Daran beteiligt sich das Bistum mit einer Ausstellung unter dem Titel „LebensWert Arbeit“, die im Museum am Dom das Spannungsfeld Arbeitswelt und Menschenwürde ausleuchtet. Geplant ist keine Huldigung, für katholische Beteiligung sei entscheidend, dass „das Wohl des Menschen in Marx’ Sozialtheorie eine zentrale Rolle spielt“, wird argumentiert.

Zur Zunft der Marx-Exegeten kann auch Kardinal Reinhard Marx gerechnet werden, vormals Bischof in Marx’ Geburtsstadt Trier. Als Erzbischof von München und Freising überraschte der Oberhirte 2010 mit einem Buch mit dem Titel „Das Kapital – Ein Plädoyer für den Menschen“. In dem unter dem Eindruck der Finanzmarktkrise klug lancierten Band wirft er die Frage auf, ob nicht zu rasch über Marx’ Gesellschaftsanalyse der Stab gebrochen worden sei. Hatte doch angesichts des Zusammenbruchs des real existierenden Sozialismus in Osteuropa etwa der bundesdeutsche Arbeitsminister Norbert Blüm im Augst 1989 vor Danziger Werftarbeitern verkündet: „Marx ist tot, und Jesus lebt.“ Kardinal Marx beruft sich auf einen anderen Trierer. Von dem Jesuitenpater und Nestor der katholischen Soziallehre Oswald von Nell-Breunig (1890 bis 1991) stammt das mittlerweile geflügelte Wort: „Wir stehen alle auf den Schultern von Karl Marx.“

www.karl-marx-ausstellung.de

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