Kerzenlicht und Laternen hinter den Fensterscheiben

In Corona-Zeiten sind neue Rituale entstanden – Theologin: Sich als Einzelner während der Krise der Solidarität der Gruppe versichern

In etlichen Fenstern stehen abends brennende Kerzen. Die Menschen zünden sie an, während vielerorts um 19.30 Uhr die Kirchenglocken läuten. Foto: view

Zündet für die Aktion „Licht der Hoffnung“ ein Licht auf der Treppe des Pfarrheims an: Pfarrer Mathias Müller aus Rothselberg. Foto: Sayer

Osterfeuer und Osternachts-Gottesdienste: Für viele Menschen ist das untrennbar verbunden mit Ostern. In diesem Jahr ist vieles anders, lieb gewonnene Traditionen pausieren, Menschen müssen sich ein Stück weit aus dem Weg gehen. Und dennoch – oder gerade deshalb sind in diesen Zeiten neue Rituale entstanden. Sie geben den Menschen das Gefühl, nicht allein zu sein.

In zahlreichen Fenstern, vor etlichen Türen stehen dieser Tage abends Kerzen, Teelichter oder Laternen. Jessica Rust-Bellenbaum, Pfarrerin aus Dannenfels, beispielsweise hat die Idee von Ingmar Maybach, Pfarrer aus Frankfurt, übernommen. „Das Licht anzünden ist ein Ritual, das jeder machen kann, unabhängig vom Glauben“, sagt Rust-Bellenbaum. „Das verbindet uns, schließlich macht das Virus ja auch keinen Unterschied, wen es erwischt.“

Zu dem sichtbaren Zeichen der Gemeinschaft kommt ein Hörbares. In vielen Kirchengemeinden läuten um 19 Uhr die Glocken, inzwischen häufig auch erst um 19.30 Uhr. Denn Ende März riefen Landeskirche und Bistum auf, täglich um diese Zeit zu läuten. „Die Menschen können innehalten und sich im Gebet mit den Erkrankten und Besorgten, den Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegenden, aber auch mit allen verbinden, die für Sicherheit und Versorgung da sind“, heißt es in einer gemeinsamen Mitteilung. Auch in Rust-Bellenbaums Kirchengemeinde läutet es nun später. „Ich muss das nur den Leuten entsprechend kommunizieren.“ Denn auch als die Kirchen zur ökumenischen Andacht per Livestream aus dem Butenschoen-Haus Landau geläutet hätten, hätten sie besorgte Anrufe erreicht. „Die Leute haben gedacht, es ist jemand gestorben.“ Das zeigt, welche Bedeutung das feste Ritual in den Orten hat. Um niemanden zu verwirren, hat das Presbyterium um Pfarrer Andreas Echternkamp in Finkenbach-Gersweiler beispielsweise dafür gestimmt, weiter um 19 Uhr zu läuten. „Die Leute sind daran gewöhnt.“

„Das Ritual schafft einen festen Punkt am Tag“, sagt Rust-Bellenbaum. Das sei wichtig, brechen doch viele Strukturen weg: Der Gang ins Wartezimmer beim Dorfarzt, der Plausch in der Kaffeeecke des Lädchens im Ort, der Besuch der Enkel. Diese Meinung teilt auch Martina Görke-Sauer. Die evangelische Theologin beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Ritualentwicklung. Zudem könnten die Rituale „quasi Corona-freie Augenblicke schaffen, in denen sich die Menschen auf positive, hoffnungsvolle Werte und Gedanken konzentrieren“. Natürlich sei es auch möglich, „für sich alleine eine Kerze anzuzünden und die Gedanken und Wünsche zu bündeln, anzuschauen und dem Licht anzuvertrauen“. Gemeinschaft verstärke aber das Gefühl, nicht alleine zu sein und sich mit seinen Sorgen und Nöten in Krisenzeiten als „normal“ zu empfinden. Solche kollektiven Rituale, zu denen auch das Klatschen für Gesundheitsmitarbeiter oder das Musizieren auf Balkonen zählen, verbinden „die private Lebenswelt mit der Außenwelt, die isolierte Welt mit der ,freien‘ Welt, und versichern dem Einzelnen die Solidarität der Gruppe“, sagt Görke-Sauer. Dies könne, gerade durch Wiederholung, ein gewisses Gefühl der Beruhigung und Sicherheit geben.

Und diese Solidarität spürt Rust-Bellenbaum. Per E-Mail verschickt sie kleine Andachten. Gemeindemitglieder geben sie weiter an andere, lesen denen am Telefon vor, die keinen Zugang zum Internet haben. Per Telefon erhält die Pfarrerin von ihren Gemeindemitgliedern unglaublich viel Resonanz auf die von ihr in Gang gebrachten Rituale. Beim täglichen Licht am Fenster ist sich Rust-Bellenbaum deshalb sicher: „Dieses Ritual setze ich auch fort, wenn wir zur Normalität zurückgekehrt sind.“ Das Licht sei dann ein Stück weit Mahnmal „an eine Zeit, in der wir einander nähergerückt sind“. Bereits jetzt, hat sie beobachtet, leuchtet das Licht in weitaus mehr Häusern, „als sonst Menschen in meinen Gottesdiensten sitzen“. Florian Riesterer

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