Gottes Geist – Ein Geist mit Narben

Nicht nur jetzt ist er mit-leidend und mit-seufzend in seiner Schöpfung gegenwärtig • von Christian Schad

Buchmalerei aus einem Psalter aus Gent: Erstellt um 1320 bis 1330 zeigt sie Christi Himmelfahrt (oben) und die Ausgießung des Heiligen Geistes (unten). Das Buch befindet sich heutzutage in der Oxforder Bodleian Library. Foto: epd

In diesem Jahr feiere ich Pfingsten, das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes, bewusster, inniger, dankbarer. Weil ich Gottes Geistkraft, seine heilende, tröstende, erneuernde und verwandelnde Gegenwart, intensiver erbitte – in den von Krankheit, Entbehrung und Leid geprägten Wochen. Auch intensiver erfahre durch die Kreativität und Kommunikationskraft unserer Kirchengemeinden.

In diesen Wochen sind sie spürbar: die starken Symbole, die uns über Grenzen und Zeiten hinweg zusammenschließen, mit Gott und untereinander verbinden. Es ist ja eine merkwürdige, fast paradoxe Situation. Der direkte Kontakt, die Umarmung, die körperliche Nähe, die wir doch als stärkstes Zeichen der Liebe kennen, sie sind zum Feind der Liebe geworden. Darum halten wir Abstand, körperlich und räumlich, und sind doch miteinander verbunden. Äußerliche Distanz führt keineswegs mit Notwendigkeit zu sozialem Abstand, ganz im Gegenteil. Wir halten uns körperlich voneinander fern, gerade, um sozial miteinander verbunden zu sein. Wir tauschen uns aus in vielfältigen digitalen Formaten.

Enkel hängen eine Botschaft an die Wäscheleine für ihre Großeltern nebenan – und Erzieherinnen tun es ebenso für ihre Kindergartenkinder, die sie vermissen. Musiker organisieren Gartenkonzerte in den Innenhöfen unserer Alten- und Pflegeheime. Und Menschen singen auf den Balkonen „Der Mond ist aufgegangen“ und wünschen nicht nur sich eine ruhige Nacht, sondern dem „kranken Nachbarn auch“. Wir hören abends die Glocken läuten, entzünden eine Kerze und schließen uns währenddessen zu einer großen, ökumenischen Gebetsgemeinschaft zusammen. Sie verdankt sich der Vereinigungskraft des göttlichen Geistes. Und ihre Reichweite ist keineswegs auf den Raum der Kirche beschränkt.

„Sie wurden alle mit dem Heiligen Geist erfüllt“, heißt es in der Apostelgeschichte (2, 4). Göttliche Kraft fließt in menschliche Leiber. Und sie inkarniert sich bis heute. Berührt das Herz, berührt unser Innerstes, und rüttelt das Beste wach, was in uns steckt.

Gerade angesichts der Verletzlichkeit, der Verwundbarkeit, der Zerbrechlichkeit menschlichen Daseins, die die Corona-Pandemie uns unübersehbar vor Augen führt, erfahren wir, wie in ihr die Liebe an Raum gewinnt. Die aufrichtende Energie des Guten. Menschen geben ihr Äußerstes: in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in Familien und Supermärkten, in der Politik. In der Zuwendung zu verletzlichem und gefährdetem Leben spüren wir, wie wirksam und heilend die Kräfte sind des Beistands, der Unterstützung, der Hilfe. Und gleichzeitig bitten wir um Trost für die Kranken und Trauernden, um Kraft für alle, die jetzt für andere sorgen. Auch finden sich Menschen, die danken. Danken für erfahrene Hilfe und Solidarität. Und die im Lob Gottes trotzig die Radikalität des Angewiesenseins auf seine Geistkraft ansprechen. Sie tun dies auch stellvertretend für die, die in Krankheit und Elend die Zerstörung des Lebens erleiden, aber die Sprache des Glaubens nicht mehr finden.

Darin spiegelt sich die Hoffnung wider, dass die lauten und stummen Klagerufe am Ende nicht unbeantwortet bleiben. Sich Gott vielmehr allen Menschen und seiner gesamten Kreatur noch einmal schöpferisch zuwendet. Gerade auch denen, die wir in der jetzigen Krise zu vergessen drohen: denen, die unter Gewalt und Krieg, Vertreibung und Flucht, Armut und Hunger leiden. Diese verwegene Hoffnung auf Zuwendung ist es, die uns, wie Paulus in seinem Brief an die Römer sagt, „geduldig“ sein lässt „in Trübsal“ und „beharrlich im Gebet“ (Römer 12, 12).

Auch das bekennen wir zu Pfingsten: Gottes Geist ist mit-leidend und mit-seufzend in dieser Schöpfung gegenwärtig: gerade um den lebenszerstörenden Kräften standzuhalten – sie aus-zuleiden. Als Geist des gekreuzigten Jesus, als Geist des auferstandenen Christus, dessen ewiges Leben die bleibend-offenen Wunden an sich trägt, als Geist Jesu Christi also, ist er ein Geist mit Narben: verletzt, versehrt, vom Leid berührt. Darum schenkt er uns Geduld, Langmut, die Kraft des Da-bleibens bei denen, die nicht mehr aus noch ein wissen. Die alleine in ihrer Wohnung oder im Seniorenheim sitzen und sich abgeschnitten fühlen, isoliert von allem. Die trauern um einen nahen Angehörigen, der an den Folgen der Corona-Erkrankung starb. Menschen, die unmittelbar betroffen sind davon, dass diese Epidemie nicht nur irgendeine Krise ist, die durch das Land wabert, vielmehr Leben angreift und Leben zerstört. Die darüber hinaus einen zweiten Schmerz verwinden müssen: die massiven Einschränkungen bei der Beerdigung – im engsten Familienkreis, ohne die gewohnte Liturgie, ohne Musik, bloß am offenen Grab. Vieles wird sich nachholen lassen, der Trost jedoch nicht.

Ich denke auch an die, die keine Perspektive sehen, wie es wirtschaftlich weitergehen soll, wenn alles überstanden sein wird: in der Gastronomie, im Handwerk, in der Landwirtschaft. In Unternehmen und Einrichtungen. Nicht fliehen, sondern bleiben: Bleiben bei denen, die in ihrer Not Kraft und Zuwendung brauchen, das bewirkt Gottes fürsorgender Geist.

Und: Er hilft, beharrlich zu beten. Ist doch das Gebet der Ort, wo ich vor Gott ausbreite, was mich im Innersten berührt: meine Sehnsucht, meine Wünsche, meine offenen Fragen. Im Gebet vollziehe ich diejenige Bewegung, die Martin Luther angefochtenen Menschen angeraten hat: Ich fliehe von Gott zu Gott. Von dem in den Wirrnissen und Nöten dieser Welt verborgenen, fernen, schweigenden Gott hin zu dem in Christus offenbaren, mitgehenden, nahen Gott. Die Kraft, die diese Bewegung ermöglicht, ist der Atem, griechisch: „Pneuma“, der Windhauch Gottes, hebräisch: „Ruach“, wie wir „Geist“ auch übersetzen können.

Ein freier Atem, der weht, wo er will, das ist der Gottesgeist. Auch für unsere Kirche. Pfingsten bedeutet: Aufbruch zu neuer, zu solidarischer, zu grenzüberschreitender Gemeinschaft. Durchweht, gestärkt und mit Mut beschenkt.

„O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein, verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein. Gieß aus dein heilig Feuer, rühr Herz und Lippen an, dass jeglicher getreuer den Herrn bekennen kann. Du Heilger Geist, bereite ein Pfingstfest nah und fern; mit deiner Kraft begleite das Zeugnis von dem Herrn. O öffne du die Herzen der Welt und uns den Mund, dass wir in Freud und Schmerzen das Heil ihr machen kund“ (Evangelisches Gesangbuch 136, 1 und 7).

Dr. h.c. Christian Schad ist seit dem Jahr 2008 Kirchenpräsident der „Evangelischen Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche)“.

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