Floskeln mit Format

Die Postkarte wird in diesem Jahr 150 Jahre alt – und behauptet sich erfolgreich in der digitalen Welt • von Florian Riesterer

Ungewöhnlicher Beruf: Sabine Rieker lebt vom Postkartenschreiben. Ihr Arbeitsort ist ein Stuttgarter Café. Foto: Werner Kuhnle

Während die ersten Postkarten ein ganzseitiges Adressfeld hatten (1877),...

...verdrängten in der Folge Bilder nach und nach den Text auf der Rückseite (1898). Fotos: pv

Nach dem Siegeszug des Telefons blieben ­Ansichtskarten erhalten (1912). Foto: pv

Angekommen sind sie nie, die Postkarten, die ich vor nun 17 Jahren in einen Briefkasten gesteckt habe. An einem einsamen Strand auf Sansibar. Damals habe ich aus jedem Urlaub mindestens eine Postkarte geschickt. Ein 22 Jahre altes Exemplar, das ich als 16-Jähriger meinen Großeltern geschrieben hatte, ist mir kürzlich in die Hände gefallen. Und sofort habe ich es wieder gespürt: den Druck, das Schriftfeld zu füllen ohne allzu große Floskeln, den Blick auf den Stapel Postkarten, die noch ihrer Beschriftung harrten, die Erleichterung, wenn sie im Briefkastenschlitz verschwanden. Aber auch das Glücksgefühl, wenn eine Postkarte im eigenen Briefkasten lag. Und liegt. Denn das Medium lebt – auch 150 Jahre nach seiner Erfindung im Jahr 1869.

Fast zeitgleich hatten damals Heinrich von Stephan, Oberpostrat und späterer Generalpostdirektor des Deutschen Kaiserreichs, sowie der österreichische Nationalökonom Emanuel Herrmann in ihren jeweiligen Ländern Vorschläge für eine Korrespondenzkarte gemacht. „Die Erfindung lag in der Luft“, sagt die Medienwissenschaftlerin Anett Holzheid vom Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe, die sich in ihrer Doktorarbeit mit der Postkarte beschäftigt hat. „Sie füllte eine Lücke zwischen dem teuren Telegramm und dem aufwendigen Brief.“ Und das sowohl geschäftlich wie auch privat. Reisende kündigten ihre Ankunft an, Kunden versicherten sich des Versands von Waren, die wegen des Siegeszugs der Eisenbahn immer weitere Reisen antraten. Am 1. Oktober 1869 gab Österreich-Ungarn die ersten Postkarten heraus. Die Deutsche Reichspost zog neun Monate später nach.

Vorbehalte hatte vor allem das Bürgertum, das seinen Statusverlust als Bildungselite fürchtete, sagt Holzheid. Schließlich sei die Semiotik eines Briefs mit unzähligen bürgerlichen Codizes aufgeladen gewesen: von der Papiergröße über den Abstand von Text zur Anrede bis hin zum Inhalt. Die wurden nun mit der Postkarte über Bord geworfen. Sie galt als frech und unkonventionell, auch weil ihr Inhalt niemandem verborgen blieb – anders als der Absender. Für Holzheid ist die Postkarte, weil sie jeder schreiben und bezahlen konnte, gar das erste demokratische Medium.

Gleichwohl kämpfte die Postkarte im Schatten des Briefs von Beginn an gegen das Bild der Minderwertigkeit. Die Aufwertung der weißen Textseite mit Bildmotiven war eine Folge. Stück für Stück zog sich so auf vielen Karten die Schrift von der Bildseite zurück. Bis sie schließlich ein eigenes Feld neben dem Adressfeld zugewiesen bekam. Die Ansichtskarte war geboren. Knapp eine Milliarde Karten – mit und ohne Bild – wurden um 1900 im Deutschen Reich versendet. Bis zu zehnmal am Tag stellten Postboten in großen Städten die Karten zu, sagt Historiker Veit Didczuneit vom Museum für Kommunikation Berlin. Das will – wie auch die anderen Standorte der Museumsstiftung Post und Telekommunikation in Nürnberg und Frankfurt – im Sommer das Jubiläum der Postkarte mit einer Ausstellung feiern.

Bis zum Ersten Weltkrieg, in dem die Feldpostkarte die Frontsoldaten seelisch mit der Heimat verband, dauerte die Hochzeit der Postkarte. Dann löste sie das Telefon als Informationsmedium ab. Was blieb, war die Ansichtskarte, die sich zwischen Urlaubs- und Geburtstagsgrüßen sowie Genesungswünschen in Nischen einrichtete. Dazu zählen auch antisemitische Postkarten aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik, die Hotels oder Heilbäder ausgaben, sagt Hajo Diekmannshenke. Der Sprachwissenschaftler von der Universität Koblenz-Landau beschäftigt sich seit Jahren mit Postkarten.

Heute gilt das Internet als Gradmesser politischer und gesellschaftlicher Strömungen. E-Mails haben Briefen den Rang abgelaufen, mit Messenger-Diensten schicken Urlauber ihren Liebsten zu Hause Grüße inklusive Foto. Umso aufgeladener in ihrer Bedeutung ist die Postkarte geworden. Denn eine Postkarte zu kaufen, zu frankieren und einzuwerfen, erfordert deutlich mehr Zeit; die nicht jeder aufbringen will. Eine Umfrage unter seinen Studenten habe ergeben, dass sich jeder gerne eine Karte wünscht, sagt Diekmannshenke. Umgekehrt schreibe aber kaum jemand gerne.

Genau das hat Sabine Rieker gemerkt. Und lebt nun beruflich, ohne dass sie es in dieser Form vorhatte, allein vom Postkartenschreiben. Sie habe immer schon gern und viel geschrieben, erzählt die 32-jährige Stuttgarterin, die früher für eine Werbeagentur arbeitete. In ihrem Stammcafé sei sie dann beim Kartenschreiben darauf angesprochen und gefragt worden, ob sie sich nicht Postkartenabonnements vorstellen könnte. Als Schreiberin. Inzwischen verlassen unzählige Karten das „Atelier für Postkartenschreibung“, ihren Tisch im Café. An manchen Tagen schreibe sie gar nicht, dann wiederum können es auch mal 40 an einem Tag sein, sagt Rieker. Auf den Karten steht, was sie selbst erlebt hat. „Ich gehe aber auch auf das ein, was ich vom anderen weiß.“

Denn häufig schreiben ihr Menschen, die für Dritte ein Postkartenabo abschließen, ausführlich über den Beschenkten, „weil sie sich nicht vorstellen können, dass ich sonst etwas zu schreiben hätte“. Sie frage sich dann manchmal, warum die Leute nicht selbst zu Karte und Stift greifen, was weniger zeitaufwendig gewesen wäre. Eine Ursache glaubt sie entdeckt zu haben. „Viele haben ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Handschrift.“ Ausgelöst etwa durch traumatische Erlebnisse aus der Grundschule. „Aber auch für mich war es eine Herausforderung, meine Schrift so zu entwickeln, dass es mir gefällt auf der Karte.“ Jedes Stück ist ein Unikat, verziert mit Stempeln, Schnörkeln und Verzierungen. Nachdem sie sich lange gegen diesen Schritt gewehrt habe, landen inzwischen auch Fotos ihrer Karten auf ihrer Homepage. Allerdings könne etwa Kugelschreiber auf schwarzem Untergrund nicht am Bildschirm, nur in natura gelesen werden. Vom Gefühl des Kartons in der Hand ganz zu schweigen, sagt Rieker.

So bleibt die Postkarte eine Bastion des Haptischen und Zeitaufwendigen. Und schwimmt auf einer Welle der Entschleunigung mit, die sich mit Achtsamkeitstrainings, Yogakursen oder Pilgerreisen in die unterschiedlichsten Bereiche ausdifferenziert hat. Was auch daran liegt, erklärt Sprachwissenschaftler Diekmannshenke, dass die Postkarte anders als elektronische Kommunikation keine direkte Antwort erwartet – sieht man einmal von den rund 20 Schachspielern im Deutschen Fernschachbund ab, die noch per Postkarte spielen; weil sie die moderne Technik überfordert, sagt Turnierdirektor Michael Müller-Töpler. Er vermisst Schach per Postkarte nicht. „Zu teuer, und es dauerte immer so lang“, sagt der 75-Jährige. Und tatsächlich: Wie lang die Karte unterwegs ist, hängt vom Ort des Postkastens, des befördernden Unternehmens, der Leserlichkeit der Adresse, des Wetters und noch mancher anderer Faktoren ab. Im Grunde eine Wundertüte – die Menschen auf der ganzen Welt fasziniert.

So schicken sich mehr als 750000 Mitglieder weltweit als sogenannte Postcrosser Karten. 50 Millionen Grüße sind so schon in Briefkästen gelandet. Die Idee hinter dem System, für das sich Kartenfans im Netz anmelden, ist: Nur wer selbst eine Karte verschickt, kann auch eine erhalten. Die Motivationen der Schreiber sind ganz unterschiedlich. Mutter Sara von den Bermudas will ihren beiden Söhnen durch Postcrossing die Welt jenseits der Inselgruppe näherbringen, Oxana aus dem Westjordanland freut sich über Kochrezepte per Post, während „marecky“ um Nachsicht bittet, dass seine Karten erst zwischen Ende August und Anfang Oktober herausgehen können. Dann ist der antarktische Winter vorbei – und Flugzeuge können wieder vom ewigen Eis starten.

Während aber immer mehr Postcrosser ihre erhaltenen Karten im Internet zeigen, haben sich Postkarten-Apps genauso wenig durchsetzen können wie E-Cards. Es liege eben doch ein besonderer Zauber in echten Karten, sagt Rieker, die überzeugt ist, nicht sie wähle die Karten aus, sondern umgekehrt. Und nicht zu vergessen: Anders als zur Frühphase des Mediums, gilt die Karte heute als besonders seriös, auch wenn sich am formelhaften Schreiben seit Anbeginn eigentlich nie groß etwas geändert habe, sagt Diekmannshenke. Schließlich versteckt sich zwischen den Kugelschreiberzeilen nie Schadsoftware. So transportierte die Deutsche Bundespost 2017 trotz digitaler Konkurrenz noch immer 195 Millionen Postkarten, der Höhepunkt liegt zur Urlaubszeit, sagt Postsprecher Stefan Heß. Einige Grüße sind auch in meinem Briefkasten gelandet. Deshalb verspreche ich: Sollte ich jemals nochmals in Sansibar sein, versuche ich es mal wieder mit der Wundertüte Postkarte.

Anett Holzheid: Das Medium Postkarte – Eine sprachwissenschaftliche und mediengeschichtliche Studie. Erich Schmidt Verlag, 2011. 440 Seiten, 59,80 Euro. ISBN 978-3-503-12252-3

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