Ein Besuch jenseits der Mauer

Vor 55 Jahren: Martin Luther King reist mit Kreditkarte als Ausweis am Checkpoint Charlie in die DDR

12. September 1964: Bürgerrechtler Martin Luther King besucht die Berliner Mauer in der Bernauer Straße. Foto: epd

Im September 1964 besuchte Martin Luther King das geteilte Berlin. Nach einer Predigt vor 20000 Menschen in der West-Berliner Waldbühne reiste er auch in den Ostteil der Stadt und predigte in der überfüllten Marienkirche und in der Sophienkirche.

Am 13. September 1964 macht sich Sabine Rackow auf den Weg von Berlin-Schöneweide, wo sie lebt, zum Alexanderplatz. Dort ist die 27-jährige Chemikerin mit Freunden aus ihrer früheren Studierendengemeinde verabredet. Sie wollen in der St. Marienkirche Martin Luther King im Gottesdienst hören. Der US-amerikanische Bürgerrechtler und Baptistenprediger ist zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt seiner Popularität: Wenige Wochen zuvor wurde per Gesetz die Rassentrennung in den USA aufgehoben; einige Wochen später wird verkündet, dass ihm der Friedensnobelpreis verliehen werden soll.

„Wir wurden an der Marienkirche jedoch abgewiesen und sollten nach Hause gehen“, erinnert sich Sabine Rackow heute. Die Menschenmenge ist unüberschaubar. Um 20 Uhr soll der Gottesdienst beginnen. Schon eine Stunde davor ist die Kirche überfüllt.

Sabine Rackow ist eine von etwa 3000 Menschen, die an diesem Sonntagabend auf Martin Luther King warten. Als der Bürgerrechtler ankommt, umringen sie das Auto, wollen ihn berühren oder ein Autogramm ergattern. Generalsuperintendent Gerhard Schmitt (1909 bis 2000), leitender Kirchenvertreter für Ost-Berlin und Brandenburg, und Pastor Rolf Dammann (1924 bis 2014), Generalsekretär des Bunds Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in der DDR, begrüßen King. In der Kirche harren 1500 Menschen aus, darunter auch der damals zwölfjährige Markus Meckel, späterer letzter Außenminister der DDR. Viele Erinnerungen an den King-Besuch hat Markus Meckel nicht mehr, dafür war er zu jung. Aber die volle Kirche und die vielen Menschen sind ihm gut im Gedächtnis geblieben. Nach dem Gottesdienst reicht er King vor der Kirche die Hand.

Der Besuch im damaligen Ost-Berlin war Kings erster und einziger hinter dem Eisernen Vorhang – für Michael Markus Schulz eine Besonderheit. Er ist Mitbegründer des Martin Luther King Memorial Berlin Komitees und selbst Zeitzeuge von 1964. „King besuchte die Front zwischen Ost und West, dort, wo der Kalte Krieg direkt aufeinanderprallte“, sagt er. Weder die evangelische Kirche noch der DDR-Staat hatten King offiziell nach Ost-Berlin eingeladen. Jedoch waren die Baptisten aus den USA und Deutschland seit Jahrzehnten eng verbunden. Außerdem stand Heinrich Grüber (1891 bis 1975), Propst der Marienkirche, seit 1963 mit King in brieflichem Kontakt. Er lud ihn nach Ost-Berlin ein, konnte jedoch selbst nicht an dem Gottesdienst teilnehmen: Seit 1961 wurde ihm die Einreise verwehrt.

Eine Absage des Besuchs stand im Raum. Kirchenleitende Vertreter hatten Wochen zuvor diskutiert, ob der Gottesdienst stattfinden solle. Einige stimmten dagegen. Allen Warnungen zum Trotz übernahm Generalsuperintendent Gerhard Schmitt die Verantwortung für den Gottesdienst und die möglichen gesell­schafts­po­li­ti­schen Konsequenzen, die solch ein Besuch mit sich bringen konnte. Die Marienkirche war zu dieser Zeit ohne geistliche Leitung: Propst Heinrich Grüber durfte nicht einreisen, ein Pfarrer war 1963 geflohen, und ein anderer saß im Gefängnis, weil er Menschen zur Flucht verholfen hatte.

Auf Einladung von Willy Brandt (1923 bis 1992), Regierender Bürgermeister von West-Berlin, reiste Martin Luther King im September 1964 nach West-Berlin. Das Programm umfasste mehrere offizielle Punkte: King trug sich unter anderem in das Goldene Buch der Stadt Berlin ein. Er eröffnete das erste internationale Jazzfestival Deutschlands und sprach bei der Gedenkfeier für den verstorbenen US-Präsidenten John F. Kennedy, wo auch ein schwarzer Gospelchor aus den USA sang. Zum „Tag der Kirchen“, dem traditionellen Treffen der evangelischen Gemeinden Berlins, predigte King in der Waldbühne vor etwa 20000 Christen. Der Tag stand unter dem Motto „Überall ist Kain und Abel“. Martin Luther King hielt hier die gleiche Predigt wie später in der Marienkirche und Sophienkirche. Danach überreichte ihm Otto Dibelius (1880 bis 1967), damaliger Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, die Ehrendoktorwürde der Theologischen Hochschule Berlin.

In den Morgenstunden des 13. September kam es zu einem Zwischenfall an der Berliner Mauer. Ein 21-Jähriger wollte von Ost-Berlin in den Westen fliehen, wurde jedoch angeschossen. Ein US-Grenzsoldat riskierte sein eigenes Leben, um den Mann zu retten: Er kletterte auf die Mauer, warf ein Seil nach unten zu dem Angeschossenen und zog ihn hoch. Damit die DDR-Soldaten sich zurückziehen, warf er eine Tränengasgranate. US-Soldaten und West-Berliner Polizei gaben ihm Feuerschutz. Der Mann überlebte. Willy Brandt überreichte dem US-Soldaten später die Ehrenbürgerurkunde.

Sobald Martin Luther King von dem Vorgang erfuhr, fuhr er zum Ort des Geschehens. Auch die Presse war dort, King gab Interviews, unter anderem „Radio Free Europe“, einem US-Sender, der noch heute ausgestrahlt wird. Später besuchte King den Angeschossenen im Krankenhaus. Kurz darauf entzog ihm die US-Botschaft seine Ausweisdokumente. Denn die Befürchtung, dass es zu politischen Verwicklungen kommen könnte, war groß. „Eine göttliche Fügung“, so Michael Markus Schulz, ermöglichte das Unmögliche: Die DDR-Grenzposten lassen Martin Luther King am Abend mit seiner American-Express-Kreditkarte als Ausweisdokument am Checkpoint Charlie einreisen.

Viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger verehrten Martin Luther King: Er kämpfte mit friedlichen Mitteln gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Sie kannten ihn und die Bürgerrechtsbewegung in den USA aus westlichen Radiosendern und dem Fernsehen. Er gab ihnen Hoffnung in einer Zeit, in der sie nur wenig davon spürten. Der Bau der Mauer war drei Jahre her. Das Gefühl der Ohnmacht und Abgeschiedenheit bestimmte noch immer die Gefühlslage.

Seine Predigten in der Marienkirche und in der Sophienkirche sind für die Anwesenden Trost und Ermutigung. King hält sie auf Englisch, der US-amerikanische Pfarrer Ralph Zorn, der sonst für GIs in West-Berlin predigt, übersetzt. Der Bürgerrechtler überbringt Grüße von den Brüdern und Schwestern aus West-Berlin sowie den USA. „Das schaffte eine Verbundenheit zu diesen Menschen“, sagt Michael Markus Schulz. Constance Bürger

Will Kings Erbe erhalten: www.martin-luther-king-memorial-berlin.de

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