Die Religion als Friedensstifterin

Einige Beispiele internationaler Konfliktlösungen und gelungener Versöhnungsarbeit • von Udo Hahn

Über 900 Teilnehmer: Weltversammlung von „Religions for Peace“ in Lindau. Foto: epd

Was passiert eigentlich, wenn Vertreterinnen und Vertreter aus Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus zusammenkommen?

Nichts! Das erste „Parlament der Weltreligionen“ tagte im Jahre 1893 in Chicago. Die Initiative war von dem Juristen Charles Carroll Bonney aus Illinois ausgegangen. Anlässlich der „World’s Columbian Exposition“ (zum 400. Jahrestag der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus), die jedoch erst ein Jahr nach dem Jubiläum stattfinden konnte, sollte es auch ein Treffen der Weltreligionen geben. Und dieses war, wie schon erwähnt, folgenlos geblieben.

100 Jahre später wurde die Idee in Chicago wiederbelebt. Seither kommt es zu Treffen in unregelmäßigen Abständen. Die achte Zusammenkunft fand 2018 in Toronto statt. Der katholische Theologe Hans Küng nutzte die Plattform 1993, um sein „Projekt Weltethos“ international bekannt zu machen. Zwei Jahre später rief er die Stiftung Weltethos für interkulturelle und interreligiöse Forschung, Bildung und Begegnung ins Leben. Dabei hat Küng ein Leitmotiv aus dem Dialog der unterschiedlichen Kirchen und Konfessionen auf die Weltreligionen übertragen. Auch sie verbindet mehr, als sie trennt.

Eine gewagte These, gewiss. Als Annahme taugt sie aber allemal. Schließlich haben alle Weltreligionen den Anspruch, im Kern friedlich zu sein. Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. Religiös aufgeladene Gewaltkonflikte und Terroranschläge zeichnen ein überwiegend negatives Bild von Religionen. Gleichzeitig bleibt wahr: Religionen sind für die Stärkung interkultureller und interreligiöser Verständigung von großer Bedeutung. Sie leisten einen wichtigen Beitrag für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.

Mit den Worten von Hans Küng: „Religionen können auch im Positiven, im Aufbauenden unendlich viel leisten und haben viel geleistet. Sie können durch Individuen, religiöse Gruppen oder auch ganze Religionsgemeinschaften in nachhaltiger Weise für Frieden, soziale Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit und Nächstenliebe in der Welt eintreten. Sie können Grundhaltungen wie Friedfertigkeit, Machtverzicht und Toleranz propagieren und aktivieren.“ Als Kurzformel: „Kein menschliches Zusammenleben ohne ein Weltethos der Nationen.“ Oder: „Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden.“

Die Idee basiert auf der Goldenen Regel, die sich in unterschiedlichen Religionen findet: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch“, postuliert Jesus (Matthäus 7, 12). Konfuzius fasst den Gedanken in negativer Formulierung zusammen: „Was du selbst nicht wünschst, das tue auch nicht anderen Menschen an.“ Wechselseitigkeit, diese Grundfigur der Sozialität, leuchtet unmittelbar als Voraussetzung für gelingendes Zusammenleben ein. Die Realität ist vom Ideal oft entfernt.

Hans Küng hat mit seinem Weltethos-Projekt ganz nebenbei das Parlament der Weltreligionen wiederbelebt. Und diese Plattform genutzt, vier sich daraus ableitende Grundgebote zu betonen: Die Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben; die Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Weltwirtschaftsordnung; die Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit; die Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und Partnerschaft von Mann und Frau.

Das Parlament der Weltreligionen, Küngs Weltethos, die 1970 gegründete Weltkonferenz der Religionen für den Frieden (heute „Religions for Peace“): All diese Bemühungen werden überlagert von Vorkommnissen religiös motivierter Gewalt auf allen Kontinenten. Dabei gibt es auch Beispiele, wie sich religiöse Akteure gegen Gewalt gestellt haben, Eskalationen verhindert wurden oder Konflikte beigelegt wurden – ganz in der Tradition eines Mahatma Ghandi oder Martin Luther King.

Die folgende Zusammenstellung orientiert sich an der Publikation von Markus A. Weingardt, „Frieden durch Religion? Das Spannungsverhältnis zwischen Religion und Politik“ (Bertelsmann-Stiftung, 2016), und nennt einige Beispiele friedensstiftender Aktivitäten:

So vermittelte im bürgerkriegsgeschüttelten Mosambik die katholische Laienbewegung Sant’Egidio zusammen mit Bischof Goncalves 1992 ein dauerhaft stabiles Friedensabkommen. Auch in Guinea/Conakry handelte Sant’Egidio 2010 ein Friedensabkommen aus, das den Weg für die ersten demokratischen Wahlen nach 50 Jahren ebnete.

Dass sich in Benin 1989/90 die Demokratie durchsetzte, ist vor allem das Verdienst von Bischof Isidore de Souza. Er initiierte im Februar 1990 die Conférence Nationale des Forces Vives de la Nation und leitete sie. Delegierte aus allen gesellschaftlichen und politischen Gruppierungen des Landes waren vertreten. Sie einigten sich auf zentrale demokratische und wirtschaftliche Reformen und auf einen Gewaltverzicht.

Die friedliche Revolution in der DDR wäre ohne die Mitwirkung der evangelischen Kirche 1989 kaum möglich gewesen. Zum einen bot die Kirche ein Dach für unterschiedliche Oppositionsgruppen und einen Ort der Begegnung, der sich staatlicher Kontrolle entzog. Zum anderen waren kirchliche Vertreter oder Gruppen wichtige Motoren und Mitgestalter der Oppositionsbewegung. Darüber hinaus vermittelten Kirchenvertreter zwischen Volk und Staatsgewalt, vor allem in jener Phase, als eine gewaltsame Niederschlagung der Proteste zu befürchten stand. Und schließlich waren viele Pfarrerinnen und Pfarrer an den „Runden Tischen“ daran beteiligt, den Übergang 1989/90 zu gestalten.

In Ruanda widersetzte sich 1994 während des Genozids nur eine Bevölkerungsgruppe der Gewalt: die Muslime – während (christliche) Hutus innerhalb von 100 Tagen über 800000 (christliche) Tutsis aufs Grausamste ermordeten. Die Muslime verweigerten sich der Gewalt und halfen sogar Flüchtlingen – gleich welcher Religion oder Ethnie – um den Todesschwadronen zu entkommen, versteckten sie oder versorgten sie mit Lebensmitteln.

Nach jahrzehntelangem Streit um den Grenzverlauf im Beagle-Kanal verhinderte Papst Johannes Paul II. 1978 in buchstäblich letzter Sekunde einen blutigen Krieg unkalkulierbaren Ausmaßes zwischen Chile und Argentinien. Sechs Jahre lang arbeiteten die päpstlichen Gesandten am letztlich erfolgreichen Abschluss eines „Friedens- und Freundschaftsvertrags“ zwischen den Nachbarstaaten.

Nach der Schreckensherrschaft von Pol Pot und den Roten Khmer in Kambodscha, der zwei Millionen Menschen – rund ein Viertel der Bevölkerung – zum Opfer gefallen waren, begann der buddhistische Mönch Maha Ghosananda 1979 eine Friedens- und Versöhnungsbewegung.

Im Februar 1986 fand in Manila auf den Philippinen eine unblutige Revolution statt, die als Rosenkranzrevolution in die Geschichte eingegangen ist. Diktator Ferdinand Marcos löste das Parlament auf, und viele Menschen, die sich gegen die Unterdrückung wehrten, wurden inhaftiert. Sie baten den Erzbischof von Manila, Kardinal Jaime Lachica Sin, um Hilfe. Dieser rief die Menschen auf die Straßen, um die Freiheit zu verteidigen. In wenigen Stunden versammelten sich mehr als zwei Millionen Menschen mit Rosenkränzen in den Händen.

In Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, in Liberia, Sierra Leone und anderen Ländern trugen Interreligiöse Räte zur friedlichen Bearbeitung von politischen Konflikten bei. Meist waren sie von „Religions for Peace“ angestoßen worden.

Die Überwindung der Apartheid in Südafrika wäre ohne den Einsatz der Kirchen im Land selbst und nicht ohne die internationale kirchliche Unterstützung gelungen. Dies gilt auch für die Arbeit der von Staatspräsident Nelson Mandela eingesetzten „Wahrheits- undVersöhnungskommission“ unter der Leitung von Erzbischof Desmond Tutu.

Über die hier genannten Beispiele hinaus gibt es zahllose Vorstöße zur Konfliktbeilegung und -beseitigung sowie zur Versöhnung, die ohne jede öffentliche Aufmerksamkeit geschehen, sozusagen hinter den Kulissen.

Auf der zehnten Weltversammlung von „Religions for Peace“ 2019 in Lindau mahnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Religionen dürften sich nicht für politische Zwecke missbrauchen lassen. „Religion darf niemals Rechtfertigung für Hass und Gewalt sein. Kein Krieg darf geführt werden im Namen der Religion“, so Steinmeier. Die Religionen dürften kein Anlass für Unfrieden und Krieg sein, sondern vielmehr „Werkzeuge des Friedens“.

„Allianz der Barmherzigkeit“, hat der langjährige Generalsekretär von „Religions for Peace“, William Vendley, die letzte Weltversammlung genannt. Manch einer mag das für naiv halten, denn der Einfluss der Religionen scheint bei vielen Themen eher gering. Andererseits wird vieles, was weltweit unter dem Vorzeichen von Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus geschieht, so als unbarmherzig entlarvt. Wenn diese Botschaft wenigstens ankäme, wäre schon viel gewonnen.

Pfarrer Udo Hahn ist Direktor der Akademie Tutzing. Den Vortrag hielt er am 16. Januar 2020 beim Jahresempfang der Akademie.

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