Die eigenen Gefühle kontrollieren

Eine Wohngruppe in Germersheim gibt Borderline-Patientinnen Chance auf ein Leben mit der Krankheit

Immer wieder eine Herausforderung in der Therapie: Selbstverletzendes Verhalten von Borderline-Patienten. Foto: epd

Mit sieben Jahren verletzt sie sich erstmals selbst – mit einer Nagelschere. Seit ihrem elften Lebensjahr ist Linda (Name von der Redaktion geändert) in Therapie, wird als Borderline-Patientin behandelt. „Lange hat man gedacht, ich sei lediglich magersüchtig“, sagt Linda, die sich einmal auf 30 Kilogramm heruntergehungert hat – und nicht nur einmal fast gestorben wäre. Zehn Kliniken hat sie mittlerweile durchlaufen, quer durch die Bundesrepublik, war zuletzt in Spanien, wo sie – wie sie sagt – von ihrem Psychiater „mit Medikamenten vollgepumpt“ wurde. „22 Stunden am Tag habe ich geschlafen, war nicht mehr schulfähig.“ Jetzt will sie, wie sie sagt, ihre letzte Chance ergreifen: in einer Intensivwohngruppe des Christlichen Jugenddorfwerks Deutschland in Germersheim.

Vor zehn Jahren wurde dort eine Einrichtung mit zunächst sieben Plätzen speziell für Borderline-Patienten eröffnet. Mittlerweile kommen dort 14 Plätze ausschließlich jungen Frauen mit dieser Störung zugute. Die Einrichtung ist in Deutschland so gut wie einmalig. Denn nur sehr wenige Jugendhilfe-Einrichtungen nehmen überhaupt Borderline-Patienten auf. Zu groß ist die Angst, dass andere Patienten selbst gefährdendes Verhalten übernehmen, sagt Marion Willem, seit 2014 Teamleiterin der Intensivwohngruppe. Was Border­line-Erkrankten daher in der Regel bleibt, sei eine „ungenügende ambulante Versorgung, unterbrochen mit immer wiederkehrenden, langen stationären Aufenthalten in der Psychiatrie“, sagt Martin Bohus.

Bohus beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim ausschließlich mit der Erkrankung Borderline. Fast 40 Leute umfasst die dortige, nach Bohus weltweit größte Forschungsgruppe. Rund fünf Prozent aller Jugendlichen, pro Schulklasse also im Durchschnitt einer, erkranken an der Störung, die mit etwa 14, 15 Jahren diagnostizierbar sei, sagt der Experte. Natürlich sei eine solche Diagnose auch ein Stigma. Aber einem Diabetes- oder MS-Erkrankten sage man schließlich auch, was er habe, argumentiert Bohus.

Auch wenn sich das Krankheitsbild nicht völlig einheitlich zeigt, Fakt ist: Zentral bei Borderline-Patienten ist die Angst vor sozialer Zurückweisung. Dies sei keine Luxuserkrankung, sagt Bohus. In den Tagen der Steinzeit sei sozialer Ausschluss tödlich gewesen, nur in Kleingruppen habe man überleben können. Immer noch seien diese Bedrohungsszenarien im menschlichen Gehirn tief verankert, eine der Urängste des Menschen. „Wir brauchen ein gewisses Maß an sozialer Bindung, um allein sein zu können“, sagt Bohus. Zu dieser Angst kommen Schwierigkeiten, den eigenen Körper zu akzeptieren, sich als Einheit zu begreifen, ein Gefühl des Andersseins. „Ich habe mich immer schon als Außenseiter gefühlt“, sagt auch Linda. Was die Krankheit aber wohl am herausforderndsten macht, ist eine rasch einschießende Hochspannung bei Problemen. Der Regulationsmechanismus im Gehirn versagt: Betroffene erleben die Situation als unerträglich – und verletzten sich selbst, um die Spannung zu reduzieren. „Ich habe einmal so tief geschnitten, dass mir nur eine Bluttransfusion helfen konnte“, sagt Linda.

Zwar ist die Borderline-Störung die am wenigsten tödliche psychische Störung verglichen etwa mit Annorexie oder Schizophrenie, sagt Bohus. Dennoch sind Selbstverletzungen nicht selten. Auch aus diesem Grund kommen in Germersheim 16 Mitarbeiter auf 14 Mädchen. Und auch nachts sind Betreuer greifbar.

Angewandt wird die dialektisch-behaviorale Therapie: Die Mädchen entwickeln Fähigkeiten – sogenannte Skills, um ihre Gefühle einordnen und damit umgehen zu können. Während kurzfristige Stresstoleranz-Skills, starke Gerüche oder laute Musik, diese Emotionen abschwächen sollen, geht es langfristig darum, gar nicht mehr in Hochspannung zu kommen, erklärt Gruppenleiterin Marion Willem. Dazu müssen alternative Verhaltensweisen erlernt werden, bis sie sich automatisieren. Ergotherapie, Sport, Theaterpädagogik, Hausarbeit, Rollenspiele und vieles mehr können auf diesem Weg helfen.

Eineinhalb bis drei Jahre wohnen die Mädchen im Schnitt auf der Station, im Zweifelsfall länger. 35 Mädchen haben die Gruppe bisher verlassen. Eine junge Frau hat nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr in einem Altenheim angefangen zu arbeiten, ist dort mittlerweile stellvertretende Stationsleiterin. Bohus betont: Zwei Drittel der von einer Störung Betroffenen können nach solch einer Therapie ein „Leben, durchzogen von einzelnen, glücklichen Momenten“ führen – was sicher nicht anders sei als das einer gesunden Person.

Solche Aussagen machen Willem Mut, die weiß, wie groß die Herausforderung jeden Tag ist. Für die Bewohner, weil es für sie – weitab von der Familie – gefühlte 1000 Regeln und Anforderungen gebe und sie für sich Ziele formulieren müssen, was Angst macht. Für die Mitarbeiter, weil sie mit der emotionalen Achterbahnfahrt umgehen müssen. Mal ist es die Nähe, dann wieder die Distanz, die Borderline-Patienten suchten. „Ich möchte nicht behandelt werden wie ein rohes Ei“, sagt Linda. Besonderes Merkmal der Germersheimer Gruppe ist für sie die Menschlichkeit. „Die Betreuer sprechen über ihre eigenen Gefühle, woanders ging es immer nur um uns als Patienten.“

Willem weiß, wie hoch die Nachfrage nach den Gruppenplätzen ist – aber auch, wie leicht Situationen eskalieren können – inklusive Polizeieinsatz. Auch deshalb gibt es ein langes Aufnahmeverfahren – inklusive Ausschlusskriterien. „Nicht aufnehmen können wir, wer gewalttätig gegenüber anderen ist“, sagt Willem. Zu häufig sei die Erfahrung häuslicher Gewalt bei Borderline-Patienten, deren Erkrankung durch emotionale Vernachlässigung oder frühkindliche Misshandlung ausgelöst werden kann. Auch Magersucht und andere Suchterkrankungen machen eine Aufnahme unmöglich. Mehrere Gespräche und ein zweimonatiges Probewohnen stehen vor der Aufnahme. „Teilweise laufen Gespräche, obwohl wir voll sind“, sagt Willem.

Das zeigt, wie prekär die Situation für Borderline-Patienten außerhalb von Wohngruppen ist. Was nicht heißt, dass sich Betroffene in der Psychiatrie unbedingt unwohl fühlen. „Die Patienten lernen, dass sich um sie gekümmert wird, wenn sie sich danebenbenehmen“, sagt Bohus. Sich Gedanken machen um das eigene Leben, das außerhalb der Psychiatriemauern weitaus komplizierter ist, brauchen sie nicht. So mäandern sie von einer Einrichtung zur nächsten.

Die Zahlen geben Bohus recht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein aus der Psychiatrie entlassener Borderline-Patient nach einem Jahr wiederkommt, liegt derzeit bei 80 Prozent; die durchschnittliche Liegezeit beträgt 60 Tage im Jahr. „Das ist harte Arbeit, da wieder rauszukommen“, sagt Bohus. 60 bis 70 Prozent der Energie in einer Therapie bestehen darin, den Patienten beizubringen, dass das nicht gut ist. „Meine Eltern haben die Notbremse gezogen“, sagt Linda. Jetzt ist es an ihr, etwas daraus zu machen. Florian Riesterer

Kontakt: cjd-germersheim.de

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