Die Dokumentation: Wohin?

Sieben Perspektiven für die Zukunft einer missionarischen Volkskirche • von Christian Schad

Weitergabe des Glaubens als größte Herausforderung: Christian Schad. Foto: epd

Die Kirchen in Deutschland befinden sich im Umbruch. Drei Herausforderungen sind unübersehbar: Mitgliederverlust aufgrund der demografischen Entwicklung und des negativen Saldos von Aus- und Eintritten, reduzierte kirchliche Finanzen, vor allem aber eine geistliche Orientierungskrise: Christentum und Kirche sind nicht mehr selbstverständlich im Erbe. Anhand von sieben Perspektiven will ich aufzeigen, wie Kirche auch in Zukunft ein Ort sein kann, an dem Menschen Halt und Orientierung finden und an dem das Evangelium so kommuniziert wird, dass es Resonanz hervorruft, Neugier erzeugt und Zeitgenossen als Lebens-Gewinn einleuchtet.

1. Vielfalt gestalten: Die Gottesfrage öffentlich wachzuhalten, das ist die Aufgabe der Kirche! Das bedeutet: auf Menschen zuzugehen, sich auf sie einzulassen und dabei den christlichen Glauben ins Gespräch zu bringen. Entscheidend wird sein, ob wir die Vielfalt der Begegnungen auch in Zukunft ermöglichen können. Schaffen wir glaubensfreundliche Räume für Menschen mit unterschiedlichen Lebensstilen, Denk- und Glaubensweisen? Stehen unsere Türen offen, auch für Ungeübte, für suchende und zweifelnde Menschen, für Kirchenmitglieder und für die, die es werden könnten?

Ich halte die „Konzentration auf das Kerngeschäft“ für problematisch. Sie berücksichtigt zu wenig, dass der Glaube selbst ein Lebensvollzug ist, sich nur bilden kann, wenn Erfahrungen von persönlicher Begegnung und Begleitung, Erfahrungen von Geselligkeit, Kultur und Gerechtigkeit eine Rolle spielen. Eine missionarisch Volkskirche verbindet beides miteinander: die volkskirchliche Orientierung an den unterschiedlichen Lebenswelten der Menschen, auch die Offenheit für unterschiedliche Frömmigkeits- und Bindungsformen in der Kirche, und die missionarische Auftragsbindung, zu den Menschen gesandt zu sein, damit diese glauben und ihren Glauben ausdrücken können.

2. Glauben weitergeben: Kirche lebt von auskunftsfähigen und auskunftsbereiten Christen. Die größte Herausforderung sehe ich darin, ob wir in der Lage sind, den Glauben an kommende Generationen weiterzugeben, Kinder und Jugendliche im christlichen Glauben zu beheimaten. Nichts beeinflusst Religiosität und kirchliche Bindung von Erwachsenen so sehr, wie die Tatsache, ob sie eine religiöse Erziehung erfahren haben oder nicht. Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend Kirche nicht kennengelernt haben, sind später kaum auf religiöse Fragen ansprechbar.

Konkret geht es darum, in einer Phase des Traditionsabbruchs Formen des Traditionsanschlusses zu ermöglichen: dass wir Menschen, die auf der Suche sind nach tragfähigen Antworten für ihr Leben, im Zutrauen auf die Kraft unserer Tradition Angebote machen und das Orientierungspotenzial des christlichen Glaubens sichtbar profilieren. Es geht um die Pflege des kulturellen Gedächtnisses, das unerlässlich dazugehört, wenn von einem ganzheitlichen Bildungsverständnis die Rede ist.

3. Glauben verantworten: Die evangelische Kirche steht für das reformatorische Bündnis von Glaube und Verstehen. Ich sage das in einem Kontext, in dem Gruppierungen eindrucksvolle Wachstumsraten verzeichnen, die auf diesen Zusammenhang meinen, verzichten zu können. Wir nehmen uns also nicht das Leichtere, sondern das Schwerere vor, wenn wir an dem Bündnis von Glaube und Bildung festhalten. Wir sind überzeugt, dass Bildung unvollständig ist, wenn sie nicht die Dimension des Glaubens mit einschließt; und umgekehrt christlicher Glaube unbegriffen bleibt, wenn er nicht verantwortet und verstanden und also auf der Ebene der Bildung artikuliert wird. Gerade der Religionsunterricht stellt dabei eine herausragende Möglichkeit dar, über eine Dauer von mindestens zehn Jahren regelmäßig mit einer breit gestreuten, heterogenen Gruppe junger Menschen Fragen und Perspektiven christlicher Religion zu besprechen.

4. Kirche sein für andere: Neugierig auf Kirche sind Menschen heute vor allem, weil sie neugierig sind auf helfenden Glauben; weil sie Zutrauen haben zu einer seelsorglichen und diakonischen Kirche. Diakonie ist einer unserer größten Aktivposten. Aber zu wünschen ist, dass in der Diakonie deutlicher zum Leuchten kommt, inwiefern sie eine Ausdrucksgestalt des Glaubens und nicht nur ein Beitrag zum Funktionieren des Sozialstaats ist.

Es geht darum, den inneren Zusammenhang von Kirche und Diakonie wiederzuentdecken; auch die Frage zu beantworten, worin der Mehr-Wert diakonischer Arbeit liegt. Ich will ihn als „haltende Kultur“ bezeichnen, in der etwas aufleuchtet von der Parteinahme des Evangeliums für die Schwachen und wo etwas zu spüren ist von der Barmherzigkeit als Kraft, aus der den Hilflosen Würde zukommt. Es ist Aufgabe einer öffentlichen Kirche zu widersprechen, wo Menschen unter die Räder kommen. Und sie wendet den biblischen Grundsatz an, dass das Kriterium für Gerechtigkeit die Situation der Ärmsten im Lande ist; und nicht nur: im Lande! Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung sind weiterhin die Begriffe, die die sozialethischen Herausforderungen weltweit zusammenfassen!

5. Kirche sein in der Nähe der Menschen: Kirchliches Handeln ist vorrangig Beziehungsarbeit. Es ereignet sich in Menschennähe. Diakonische Einrichtungen, die Präsenz in Schulen, die Seelsorge in Krankenhäusern, ökumenische Kontaktpflege, all das halte ich für unverzichtbar. Und doch lebt Kirche zentral von den Menschen, die sich in der Gemeinde an die Geschichte des christlichen Glaubens erinnern, ihn pflegen, feiern, praktizieren und ihn seelsorgerlich, diakonisch, singend und verkündigend weitergeben. Nach wie vor sind die Kirchengemeinden der Wurzelgrund protestantischer Identität. Nicht Zentralisierung, nicht Rückzug aus der Fläche, sondern Stärkung lokaler Präsenzformen des Christlichen sind daher das Gebot der Stunde.

Um diese Aufgabe erfüllen zu können, dürfen Gemeinden keine abgeschotteten Inseln sein. Neben einem stabilen Basisangebot vor Ort sind ein vernetztes Miteinander und gemeinsam erarbeitete Schwerpunkte angemessen, um zielgruppenorientiert und milieuverknüpfend Kirche gestalten zu können. Nicht die alternative Orts- oder Profilgemeinde führt weiter, sondern die Ermutigung zur Profil- und Schwerpunktbildung auf Grundlage der Parochie.

6. Priestertum aller Glaubenden: Wir werden in unserer Kirche dem freiwilligen Engagement neue Bedeutung zuteilwerden lassen. Freilich, wenn man dies in Zeiten der Finanzknappheit betont, liegen Missverständnisse nahe: Um die Einschränkung beruflicher Mitarbeit zu verharmlosen, werde die Ehren­amtlichkeit wiederentdeckt. Und zum Teil ist dieser Einwand auch berechtigt. Doch darf er den Zugang zu der elementaren Einsicht nicht verstellen, dass durch die Taufe alle Mitglieder der Kirche zu Mitarbeit und Mitverantwortung berufen sind. So wichtig hauptamtliche Mitarbeit ist: Die Zukunft der Kirche entscheidet sich auch an der Frage, ob freiwillig Tätige sich mit dem Glauben und dem Auftrag der Kirche identifizieren.

7. In ökumenischer Weite protestantisches Profil gewinnen: 2017/2018 feierten wir den 500. Jahrestag der Reformation und den 200. Jahrestag der Pfälzer Kirchenunion. Da lag es nahe, sich auf den Schatz der eigenen Traditionen zu besinnen, um als Kirche des guten Wortes erkennbar zu sein. Als Protestanten betonen wir: Quelle menschlicher Freiheit ist Gottes Wort, gelesen aus der Heiligen Schrift, entfaltet in der Predigt, gesungen in den Liedern der Gemeinde. Wir achten das Individuum, und wir orientieren uns am Gewissen der Einzelnen. Protestanten glauben aufgeklärt, sie haben Mut zur Zeitgenossenschaft und lassen Raum für unterschiedliche Frömmigkeitsstile.

Aus diesem Selbstverständnis heraus müssen wir eine Kultur entwickeln, in der Einheit und Differenz nicht gegeneinander ausgespielt werden. Es gibt einen Hang zur Uniformität, der einem dialogischen Miteinander ebenso hinderlich ist, wie die Identitätssuche auf Kosten anderer. Doch die unterschiedlichen Profile der christlichen Konfessionen stehen der Einheit der Kirche nicht im Wege. Geschwisterliche Vielfalt, einander ergänzende, korrigierende und bereichernde Pluralität, gehört zum Wesen der Kirchengemeinschaft und ist Voraussetzung lebendiger Einheit.

Alles, was in unserer Kirche an geistlicher Substanz und Kommunikationsfähigkeit, aber auch an Streitlust, Humor und menschlicher Vielfalt vorhanden ist, soll für die Menschen im Alltag ihres Lebens erfahrbar werden. Die evangelische Kirche behält so ihren Ort in der Mitte der Gesellschaft, und sie wirkt umso überzeugender, als man uns abspürt, dass wir selber von der Zuversicht getragen sind, die wir anderen weitersagen.

Dr. h.c. Christian Schad ist seit 2008 pfälzischer Kirchenpräsident. Den hier leicht gekürzten Vortrag hielt er im Juni 2019 beim Lions-Club Neustadt.

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