Die Dokumentation: Wo Digitalisierung ihre Grenze hat

Es geht nur digital und analog – Gnade hat in Jesus Hände und Füße bekommen • von Christian Schad

Leere Bänke: Streaming-Gottesdienst im März aus der Pauluskirche in Hannover. Foto: epd

In kaum vorstellbarer Weise hat die Corona-Pandemie unseren Alltag verändert. Sie hat unser privates und öffentliches, auch unser kirchliches Handeln in einen Ausnahmezustand versetzt. Persönliche Möglichkeiten und Freiheiten werden eingeschränkt, in der Hoffnung, die Pandemie zu beherrschen, unsere Gesundheit, unser Leben zu schützen. Vieles von dem, was bisher selbstverständlich war, hat Risse bekommen, heftige Risse! Eine „Ent-Selbstverständlichung“ hat eingesetzt, und Alternativen entwickeln sich zu neuen „Normalitäten“.

Konkret auf unser kirchliches Leben bezogen heißt das: Gottesdienste im Livestream, Bibelstunden per Zoom-Konferenz, Singen – wenn überhaupt – im Freien, Beten und Feiern vor Ort mit Abstand. Alles verändert sich im Zeichen der Infektionsgefahr. Das vielleicht Gravierendste ist dies: Das soziale Klima unter uns, das Miteinander von Mensch zu Mensch, hat sich völlig gewandelt. Es steht – leider nicht grundlos – unter der Hermeneutik des Verdachts: Jede und jeder – und damit auch: ich selbst – könnte, ohne Wissen und ohne Wollen, ein Verbreiter des Virus sein, ein Medium des Bösen, ein Übermittler des Krankmachenden. Darum sichern, darum schützen wir uns, gehen auf körperliche, auf räumliche Distanz.

Was aber geht dabei verloren? Nähe und Unmittelbarkeit, leibliches Miteinander in Gespräch und freier Geselligkeit. Dass sich – zu alledem – Länder gegeneinander abgeschottet, ihre Grenzübergänge dichtgemacht, ja sogar Bundesländer ihre Grenzen zueinander geschlossen haben, mit der Folge, dass alte Nationalismen, alte Vorurteile dem anderen, dem Fremden, den Nachbarn gegenüber, aufkeimten. Wir haben das längst überwunden Geglaubte in den letzten Monaten schmerzhaft aufleben sehen. Auch das ist ein Riss, der mit dem Jahr 2020 in die Geschichte eingehen wird.

Die zeitweise Suspendierung von leiblicher, analoger, körperlicher „Face-to-Face“-Kommunikation hat den sogenannten digitalen Wandel vorange­trieben. „Digitalisierungsschub“ lautet nicht umsonst eines der am meisten gebrauchten Worte dieses Jahres. Von Onlinekonferenzen bis zum Homeoffice: Corona war und ist ein Beschleuniger des innovativen Erprobens. Streaming-Gottesdienste schossen seit Ende März wie Pilze aus dem Boden. Eine repräsentative Umfrage der EKD hat ergeben, dass vier Fünftel unserer Kirchengemeinden digitale Formate aus dem Nichts heraus entwickelt haben.

Nicht nur bereits bestehende Homepages, sondern auch Youtube, Facebook, Podcasts und Blogs wurden bespielt. Zum Teil wurden auch völlig neue Web-Kirchenportale gestartet. Darüber hinaus sind digitale Helfer für eine gelebte Spiritualität entdeckt beziehungsweise wiederentdeckt worden: die Losungen und andere biblische Texte auf dem Smartphone, Exerzitien im Alltag als App oder die Kommunikation mit Konfirmandinnen und Konfirmanden über die „KonApp“ auf dem Mobiltelefon. „Digitalisiert euch, sonst vergeht ihr!“, war kürzlich in einem Kommentar zu lesen. Bleibt dabei aber nicht Wesentliches auf der Strecke?

Zwei Erfahrungsberichte der letzten Monate blende ich hier ein. Eine 62-Jährige schreibt: „Mich persönlich hat es am meisten geschmerzt, meine Enkelkinder nicht sehen zu können. Wir haben versucht, das mit Skype-Konferenzen auszugleichen. Jeden Tag von 11.30 bis 12.00 Uhr wurden die Enkel mit mir zusammengeschaltet. Ich habe ein Bilderbuch vorgelesen, ‚Geschichten aus Bullerbü‘, ‚Die kleine Hexe‘ und ‚Pippi Langstrumpf‘. Und wir sind gemeinsam neu eingetaucht in Märchen. Danach haben wir uns ein bisschen ausgetauscht. Das hat meist gut geklappt. Als ein Enkel den Bildschirm berührte und mit Tränen in den Augen ‚Omi!‘ rief, kamen mir selbst auch die Tränen. Ein Kind auf dem Schoß zu haben beim Bilderbuch-Vorlesen, das kann ein Computer nicht ersetzen!“

Und ein 45-jähriger Hochschullehrer sagt: „Was ist ein Studium ohne leibliche Präsenz? Ohne gemeinschaftliche Diskurslabore namens Seminare? Ohne gemeinsames Denken namens Vorlesung? Ohne Vergemeinschaftung in der Fakultät und in den Kneipen? … Die ausschließlich digitale Universität wird irgendwann zur Simulation von Universität – zur Scheinveranstaltung zum Scheinesammeln.“

„Digitalisiert euch, sonst vergeht ihr!“ Dieser Imperativ, er führt zum Ausschluss, zur Exkommunikation alles Leibhaftigen. Was bleibt, ist ein heiliger Rest, der im Digitalen nicht mehr repräsentiert werden kann, aber für menschliches Leben wesentlich und unverzichtbar ist: Körper und Geste und Szene, Mitsein und offene, tatsächlich erlebte und gelebte Gemeinschaft. Kurzum alle Formen und Figuren, die sich in ihrer Materialität und Körperlichkeit nicht virtuell ersetzen lassen.

Glücklicherweise ist die Alternative „digital“ oder „analog“ in Wirklichkeit gar keine. Vielmehr wird beides sein Recht haben und sich in Zukunft – in Gestalt hybrider Formate – noch sehr viel stärker wechselseitig ergänzen. Ein einfaches Zurück, ein einfaches „Wie vorher“ wird es nicht geben. Alte Selbstverständlichkeiten des sozialen Vertrauens werden davon merklich berührt: Der unwillkürliche Handschlag und eine gewisse Nähe beim Sprechen miteinander werden vermutlich nie mehr wiederkehren.

Uns bleibt nur, uns in dem Neuen, anderen einzurichten – und, wenn auch mühsam, neue Selbstverständlichkeiten aufzubauen. Ja, wir werden einen nachhaltigen Kulturwandel erleben. Dass dieser zum großen Teil mit dem digitalen Wandel einhergeht, ist jetzt schon spürbar. Inzwischen ist das Netz zu einem umfassenden Kommunikationskanal geworden, über den alles transportiert wird, was sich irgendwie digital codieren lässt.

In seiner Bedeutung ist das Netz zu einer Infrastruktur geworden, die lebens-, ja überlebenswichtig ist. Und in der Medizin genauso wie in der Pflege erleben wir, wie – jenseits der elektronischen Erfassung, Bearbeitung und Wiedergabe von Personalakten – Systeme der Künstlichen Intelligenz und sogenannte Assistenzroboter zunehmend als Ersatz für die zwischenmenschliche Kommunikation genutzt werden. Dieser Trend wird sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten fortsetzen, rasant fortsetzen.

Bleiben aber wird: ein Rest, ein heiliger Rest, der sich nicht aufheben lässt in unsinnlichen Sinn. Leiblichkeit, Verkörperung, Gemeinschaft; Atmosphäre, Raum und soziales Klima mit allen Sinnen; Berührung und Nähe, Riechen und Schmecken markieren die Widerlager gegen die restlose Aufhebung in die Unsinnlichkeit der Simulation – freilich um den Preis der Verletzlichkeit.

Immerhin geht es Gott genauso: kein Christus ohne leibhaftige Gemeinschaft, kein Geist ohne Leib. Gott wird Mensch, wird „Fleisch“ (Johannes 1, 14). Christus ist der Offenbarer Gottes in Leiblichkeit. Die göttliche Wahrheit, die göttliche Gnade hat in Jesus Hände und Füße bekommen, mit denen er nicht nur informiert, sondern Wahrheit und Gnade austeilt und so unserem Leben eine neue Wende gibt. Gott existiert nicht ohne sein Kommen zur Welt. Und selbst der Auferstandene wird an den Wundmalen erkannt, den Wundmalen seiner Fleischwerdung. Entsprechend bekennen wir im Credo: „Ich glaube an die Auferstehung der Toten“, „an die Auferstehung des Fleisches“, wie es früher hieß. Es geht im Blick auf das ewige Leben um die Wiederherstellung der Leiblichkeit zu der Vollkommenheit, die sie in Gott hat. Darum kann der schwäbische Pietist Friedrich Christoph Oetinger (1702 bis 1783) sagen: „Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes.“

Digitalisierung – ja! Aber sie hat ihre Grenze dort, wo wir auf menschliche Weise miteinander lebendig bleiben wollen. Denn Gott wurde Mensch, damit wir menschliche Menschen werden: „mit Leib und Seele, Augen, Ohren und allen Gliedern, mit Vernunft und allen Sinnen“ (so Martin Luther im Kleinen Katechismus).

Die digitale Transformation fordert uns heraus, über die Grundfragen des Lebens nachzudenken. Anders ausgedrückt: das Leben in der digitalen Welt bewusst zu gestalten. Eine wesentliche Frage lautet dabei: Wie kann digitale Technik so eingesetzt werden, dass konkrete menschliche Beziehungen gefördert werden? Roboter zum Beispiel sollten in der Pflege Menschen gerade nicht ersetzen. Sie können aber helfen, dass Menschen mehr Zeit haben, sich einander zuzuwenden und füreinander da zu sein. Ob wir in der digitalen Welt das Geheimnis menschlichen Lebens wahren und schützen wollen, darum geht es. Was der Reformator Martin Luther prägnant zusammengefasst hat, gilt auch in der neuen digitalen Welt: „Wir sollen Menschen und nicht Gott sein. Das ist die Summa!“

Dr. h. c. Christian Schad ist Kirchen­präsident der Evangelischen Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche).

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