Die Dokumentation: Wie die Bibel entstanden ist

Gottes Wort und Werk von Menschen – Eine Linie der Hoffnung und Verheißung • von Helmut Frank

Fundort der Schriftrollen vom Toten Meer: Blick von den Bergen von Qumran. Foto: epd

Wer hat die Bibel geschrieben? Ist sie Gottes Wort oder das Werk von Menschen? Über die Bibel kann man viel sagen: Sie ist das am meisten verbreitete Buch der Welt, das Buch mit der größten Wirkungsgeschichte. Über die Bibel wurde schon viel gesagt. Bertolt Brecht schätzte sie als „mein Lieblingsbuch“. Das beste Zitat zum Wert der Bibel stammt jedoch vom Schweizer Theologen Adolf Schlatter (1852 bis 1938): „Ohne Bibel wird der evangelische Pfarrer zum Schwätzer und der katholische Priester zum Zauberer.“

Was macht also dieses einzigartige Buch aus? Und wie ist es geworden? Die Bibel wurde nicht von einer höheren Macht eingeflüstert, wie das andere Religionen von ihren heiligen Schriften im übertragenen Sinne behaupten. Sie ist auch kein gewöhnliches Buch, das ein Verfasser in einigen Monaten oder Jahren geschrieben hat. Die Bibel ist vielmehr eine kleine Bibliothek aus 66 Büchern. Das Wort „Bibel“ kommt aus dem Griechischen, „ta biblia“ bedeutet dort „die Bücher“. Das Alte Testament umfasst 39 Bücher, das Neue Testament enthält 27 Schriften – verfasst von 40 verschiedenen Autoren: Könige, Hirten, Fischer, ein Arzt, ein Zeltmacher.

Geschichte des jüdischen Volks als Leitmotiv

Die Bibel erzählt die Geschichte Gottes mit dem Menschen. Und Menschen erzählen darin ihre Geschichte mit Gott. Am Anfang geschah dies mündlich. So kann man die Bibel als Ergebnis einer jahrtausendealten Erzähltradition sehen. Lange bevor die Schriftkultur entstand, wurden von einer Generation zur nächsten wesentliche Erfahrungen mit Gott und der Welt mündlich weitergegeben. Im Zelt, am Lagerfeuer in der Steppe, beim Stammestreffen an der Quelle.

Ab dem 9. Jahrhundert v. Chr. wurden die Texte dann auf Papyrus fixiert. Menschen sammelten Worte, Erzählungen, Dichtungen und Sprüche, aber auch amtliche Mitteilungen. Es war die Zeit, als die Israeliten, ein Volk von Wandernomaden, sesshaft wurden. Sie begannen, die alten Texte aufzuschreiben. Besonders am Tempel Salomos (965 bis 926 v. Chr.) in Jerusalem wurden die heiligen Texte aufgeschrieben, gesammelt und aufbewahrt.

Ein Leitmotiv bei der Entstehung der Hebräischen Bibel war die Darstellung der Geschichte des jüdischen Volks. Ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. haben jüdische Gelehrte die heiligen Schriften zu größeren Einheiten zusammengefügt, beginnend mit der Thora, den fünf Büchern Mose. Bis zum 2. Jahrhundert wurden die Bücher und Texte immer wieder überarbeitet. Bestehende Texte wurden mit neuen kombiniert. Darum gibt es auch zwei Schöpfungserzählungen am Anfang der Bibel.

Vermutlich stand der genaue Umfang der hebräischen heiligen Schriften erst gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. fest. In den Jahrhunderten nach der Zerstörung Jerusalems und des zweiten Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. fixierten jüdische Gelehrte die Gestalt des Textes bis in kleinste Einzelheiten. Sie schlossen die Sammlung mit 36 Schriften ab. Wieder war es die Sorge um die religiöse Identität des Volks Israel, die der Hebräischen Bibel den Weg ebnete.

Auch das Neue Testament fußt auf einer mündlichen Erzähltradition, die allerdings nur wenige Jahrzehnte dauerte. Nach der Auferstehung Jesu begannen seine Jünger und Anhänger in Palästina, Syrien und in Ägypten, von seinem Leben und seiner Botschaft zu erzählen. Zunächst waren dies Zeugnisse von seinem Tod und seiner Auferstehung. Sehr bald wurde dies als „Urbekenntnis“ der neuen Gemeinschaft formuliert. Dieses ursprüngliche Zeugnis ist in 1. Korinther 15, 3 erhalten.

Zwei Jahrzehnte lang schrieben die Nazoräer, wie man die Christen erst nannte (Apostelgeschichte 24, 5), nichts über Jesus auf. Sie erwarteten das baldige Ende der Welt und seine Wiederkunft, dauerhafte Aufzeichnungen brauchte man da nicht. Als Bibel hatte man – wie der Jude Jesus – die Texte Israels.

Obwohl die Wiederkunft Jesu ausblieb, breitete sich das Christentum in großer Geschwindigkeit aus – trotz der großen Verfolgungen unter den römischen Kaisern. Die Mission der Jünger war erfolgreich, vor allem die des spät berufenen Apostels Paulus, der Jesus nie persönlich begegnet war. Nicht nur in Rom, sondern auch in Griechenland, Kleinasien und Ägypten bestand Bedarf nach den schriftlichen Grundlagen des neuen Glaubens.

Der früheste Text des Neuen Testaments stammt aus dem Jahr 50. Es ist der Brief des Paulus an die Gemeinde in Thessalonich in Griechenland. Paulus schrieb ihn auf seiner zweiten Missionsreise in Korinth, nachdem er von Timotheus und Silas über die Gemeinde gute Nachrichten erhalten hatte, aber auch Meldungen über Spekulationen über die Wiederkunft Christi, Neigungen zu Müßiggang und unsittlichem Wandel.

Die Gemeinde wollte vor allem eine Antwort, was mit den gestorbenen Christen geschieht, die die ausstehende Wiederkunft Christi nicht mehr erleben konnten (4, 13–18). Paulus musste – vermutlich erstmalig – von der Auferstehung der Christen sprechen.

Die Briefe des Paulus entstanden als Instrumente der Gemeindebildung und fungierten als Wegweiser in theologischen Auseinandersetzungen. Sie sind die frühesten Schriften des Neuen Testaments. Etwa zur gleichen Zeit – um die Mitte des 1. Jahrhunderts – hat man auch damit begonnen, die Berichte von den Worten und Taten Jesu schriftlich festzuhalten, ein Prozess, der in der redaktionellen Komposition der Evangelien seinen Abschluss fand.

Ohne Bibel wird der evangelische Pfarrer zum Schwätzer und der katholische Priester zum Zauberer.“ Adolf Schlatter (1852 bis 1938)

Von den vier Evangelien ist das Markusevangelium das älteste. Abgesehen vom Passionsbericht legt Markus keinen Wert auf eine chronologische Darstellung des Lebens Jesu. Die Abschnitte sind oft nur lose verbunden, das Ganze hat eher den Charakter „Gesammelte Erzählungen über Jesus“. Mehr redaktionelle Arbeit ist bei Matthäus und Lukas zu erkennen, sie benutzten das Markusevangelium als Vorlage. Die beiden hatten jedoch vermutlich noch eine weitere gemeinsame Vorlage zur Verfügung, eine Sammlung von Sprüchen und Reden Jesu. Aus dieser verlorenen Quelle stammen beispielsweise die Bergpredigt (Matthäus 5–7) und die Feldrede (Lukas 6).

Am Anfang seines Evangeliums erzählt Lukas ganz offen von dem komplizierten und offensichtlich nicht immer ganz zuverlässigen Prozess der Weitergabe der Botschaft Jesu. Er hat deshalb beschlossen, „all diesen Überlieferungen bis hin zu den ersten Anfängen“ selbst „sorgfältig nachzugehen“, um sie dann „in der rechten Ordnung und Abfolge niederzuschreiben“ (Lukas 1, 3). Johannes wiederum hatte wohl alle drei Evangelien vorliegen und daraus ein neuartiges Werk mit eigenem theologischen Charakter geschaffen.

Auch von den neutestamentlichen Texten ist keine Originalschrift erhalten. Sie wurden zunächst noch auf Papyrus abgeschrieben und zu einem sogenannten Codex zusammengeheftet. Diesen versah man zum Schutz mit Holzdeckeln. Berühmte alte Handschriften, wie der Codex Sinaiticus, der beinahe den ganzen Bibeltext enthält, oder der Papyrus 46 (um 200 n. Chr.), eine der ältesten Abschriften der Paulusbriefe, wurden in Klosterbibliotheken oder im Wüstensand gefunden. Sie bezeugen die hervorragende Überlieferung des ursprünglichen Texts.

In der noch jungen Gemeinde Jesu Christi gab es eine Vielzahl weiterer Texte: die Petrus-Apokalypse, das Thomasevangelium, das Judasevangelium, die beiden Clemensbriefe und viele weitere apokryphe Schriften. Deshalb musste die frühe Kirche eine Entscheidung fällen, welche Schriften als verbindlich gelten. Am Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. stand das Neue Testament im Wesentlichen in seinem heutigen Umfang fest. In der Geschichte ihrer Entstehung wird also der menschliche Faktor der Bibel deutlich. Doch inwiefern ist sie Wort Gottes?

Wäre die Bibel ein Codex göttlicher Wahrheiten, dann wäre der Glaube ein kaltes System. Der Glaube ist jedoch eine Beziehungswirklichkeit, in der sich Gott erschließt. Ein lebendiger Gott, der es sich immer wieder gereuen lässt, der sich selbst beherrschen muss, der müde wird über unseren Sünden, der seine Pläne ändert und seine Fristen. Ein Gott, der schließlich Mensch wird, um der gefallenen Welt nahe zu sein. Die Bibel zeigt kein philosophisches Prinzip, sondern sie bezeugt einen zugewandten lebendigen Gott.

Die Bibel erzählt die Geschichten von Menschen, die an ihrem Tiefpunkt noch eine Zukunft haben. In den Abgründen des Lebens, in Scheitern, Schuld und Versagen ist Gott dem Menschen nahe. Von Abraham über Mose bis Hiob zieht sich eine Linie der Hoffnung und Verheißung bis zu Jesus, den Gott aus dem absoluten Tiefpunkt, dem gänzlichen Scheitern im Tod, zum Leben erweckt.

Helmut Frank ist Chefredakteur der evangelischen Wochenzeitung „Sonntagsblatt“, das in München erscheint.

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