Die Dokumentation: Von Schuld und Sühne

Eine Motivsuche für Hans Stempels Einsatz für NS-Verbrecher • von Gabriele Stüber und Christine Lauer

Rang um die Reue der Täter: Der frühere Kirchenpräsident Hans Stempel. Foto: Archiv

Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs setzte sich der spätere pfälzische Kirchenpräsident Hans Stempel für Hafterleichterungen und Begnadigungen von NS-Tätern ein. Stempels Aktivitäten endeten erst mit seinem Tod 1970. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit Stempels komplexem Verständnis von Schuld, das ihn maßgeblich zu diesem, aus heutiger Sicht irritierenden Einsatz für NS-Täter veranlasste.

Hans Stempel wurde am 8. Juli 1894 als zweites Kind eines Pfarrers in Steinwenden geboren. Nach dem Abitur leistete er freiwilligen Militärdienst und studierte ab 1913 Germanistik und Geschichte. Bereits am 2. August 1914 meldete er sich zum Kriegsdienst. Er wurde zweimal verwundet, davon einmal schwer.

Nach Umwegen und sicher infolge seiner Kriegserlebnisse kam Stempel zum Theologiestudium in Heidelberg. Er schloss es, auch bedingt durch die Zeitumstände, bereits nach vier Semestern ab. Deutschnational ausgerichtet, trat er in das rechtsmilitante Studentische Freikorps Marburg ein. Schon im September 1921 absolvierte er die Aufnahmeprüfung der pfälzischen Landeskirche als Jahrgangsbester. Fast nahtlos erhielt er seine erste Pfarrstelle in Oppau, das kurz zuvor durch ein Explosionsunglück in der BASF verwüstet worden war. Hier wie im Krieg erlebte Stempel das Aufeinanderstoßen von äußeren Machtfaktoren und existenzieller Ohnmachtserfahrung – nun allerdings in seiner Rolle als Seelsorger, der die Menschen inmitten von Tod und Verwüstung aufzurichten hatte.

Die NS-Zeit brachte Hans Stempel weitere Ohnmachtserfahrungen. Er musste erkennen, dass das Wirken der Kirche, wie er sie verstand, unmöglich gemacht wurde. Er wurde Vorsitzender einer innerkirchlichen Oppositionsgruppe, der im September 1934 gegründeten Pfarrbruderschaft. Gleichwohl arrangierte er sich mit der Kirchenleitung und trat dieser im März 1936 gemeinsam mit zwei Mitgliedern der Pfarrbruderschaft bei.

1939 wurde Stempel neben seiner Tätigkeit als Pfarrer in Landau als Wehrmachtsseelsorger eingesetzt und wirkte in gleicher Funktion seit 1944 auch im Lazarett. Nach dem Krieg ging diese Seelsorge über in die Betreuung der Internierten im Lager Landau, seit 1947 dann in die verurteilter NS-Täter. Beruflich gelang Stempel der Aufstieg ins Amt des Kirchenpräsidenten, das er von 1948 bis 1964 innehatte. In dieser Funktion und im Ruhestand wirkte er weiterhin für NS-Täter.

Grundlegender Handlungsantrieb für den Einsatz Stempels für NS-Verbrecher war sein komplexes Schuldverständnis, das er situativ unterschiedlich artikulierte. 1956 beschrieb Stempel seine Gefühlslage nach Kriegsende folgendermaßen: „Feststellen, dass man nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes noch lebte, das konnte man nicht ohne das Gefühl der Schuld.“ Hier klingt ein Phänomen an, das Stempel mit vielen Überlebenden von Katastrophen teilt und das als Überlebensschuld-Syndrom bekannt ist. Stempel setzte diese Befindlichkeit in einen Handlungsimpuls um, der für ihn mit dem Auftrag des Seelsorgers verschmolz: „Sich in einem solchen Niederbruch des Volkes vorzufinden, die Hand regen zu dürfen und eine Botschaft auf höchstes Geheiß ausrichten zu können, was vermöchte mehr Lohn in sich zu tragen als dies!“

Es ging darum, die erstarrende Erfahrung von Ohnmacht und Schuld durch das Erleben von Selbstwirksamkeit aufzubrechen, im Falle Stempels durch die seelsorgerliche Tat. Sie erlaubte ihm zugleich den Brückenschlag zu den Gefangenen. Auch sie befanden sich in einer Situation der Paralyse, die mit ihrer Schuld verbunden war. Stempel empfand diese Schuld offenbar als ein Ganzes. Es empfiehlt sich jedoch, den Schuldkomplex nach drei Dimensionen zu differenzieren in eine juristische, moralische und theologische Schuld.

Stempels Seelsorge sollte offenbar einen Prozess anschieben, in dem die Hinwendung zu Gott eine innere Befreiung in Gang setzte, die wiederum einer äußeren Befreiung den Weg bereiten konnte. Im Theologiestudium hatte Stempel die befreiende Botschaft des Evangeliums für sich entdeckt. Die Beschäftigung mit theologischen Fragen hatte ihm bei der Suche nach einer Deutung seiner Kriegserfahrungen und seiner Verwundung eine sinnstiftende Dimension eröffnet. Diese wollte er auch den ganz anders schuldig gewordenen NS-Tätern vermitteln.

Theologisch begründbar war die seelsorgerliche Tätigkeit allemal, denn Gott will, „dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1. Timotheus 2, 4). Damit verbunden war der Missionsbefehl nach Matthäus 28, 18–20. Es ging also auch um eine Bekehrung dieser kirchenfernen oder aus der Kirche ausgetretenen Personengruppe. Immer wieder berichtete Stempel daher von Schuldbekenntnissen, Reue und Sühne oder von bewegender christlicher Haltung. Nach reformatorischer Lehre ist der in Schuld verstrickte Mensch durch Christi Opfertod allein durch seinen Glauben vor Gott gerechtfertigt. Stempel rang daher um Reue und Schuldbekenntnisse der Täter als Voraussetzung für Vergebung.

Dem seelsorgerlichen Anspruch, ein Schuldanerkenntnis der Täter vor Gott zu erreichen, stand jedoch deren verdrängte oder auch ausgelagerte Schuld entgegen. Stempel dazu: „Man hat die Untaten aus der Kontinuität der eigenen Lebensgeschichte herausgenommen. Man kann oder will sich nicht mehr erinnern, weil man sich selbst verneinen müsste und der Widerwille gegen die eigene Person wach zu werden beginnt.“

Bei aller Fürsprache für die Täter lehnte Stempel eine Generalamnestie ab. Er war der Überzeugung, dass es eine juristisch definierte Schuld und mithin ein Strafmaß geben müsse. Anschließend aber seien die Täter zu begnadigen und in die Freiheit zu entlassen. Verständlich wird dieses Denken, wenn man ein dialektisches Schuldverständnis Stempels annimmt. Die NS-Täter hatten sich durch ihre Verbrechen von Gott entfernt und damit theologisch Schuld auf sich geladen. Zugleich hatten sie wider besseres Wissen gegen die Normen einer zivilisierten Völkergemeinschaft verstoßen und waren moralisch schuldig geworden. Die juristische Schuld und mithin eine Strafzumessung formulierten die Gerichte nach dem Zusammenbruch des NS-Unrechtssystems. Voraussetzung für eine Begnadigung durch die Justiz konnte nach Stempels Vorstellung nur die Anerkennung der moralischen Schuld und der Schuld vor Gott sein. Erst dadurch würden die Täter zu anderen Menschen und waren einer Begnadigung würdig, die die Grundlage einer in die Zukunft weisenden Versöhnung zwischen den Völkern bildete.

Da Stempel sich in seiner öffentlichen Argumentation vornehmlich mit der justiziablen Seite der Schuld zu beschäftigen hatte, wirken seine Formulierungen aus heutiger Sicht befremdlich verharmlosend und relativierend. Aus seinem Verständnis heraus lag der eigentliche Schlüssel einer Entschuldung und Versöhnung der Täter in der Anerkenntnis moralischer und theologischer Schuldkategorien. Im intensiven Kontakt mit den Tätern nahm Stempel jedoch wahr, dass es für viele „sehr schwer war, die Tatsache, dass sie verführt wurden, als eigene Schuld zu bekennen, zu erkennen, zumal wenn noch positive Motive eine Rolle dabei gespielt haben“. Mit fortschreitender Zeit und in konkreten Fällen bewertete er die Taten primär als kriegsbedingtes Handeln.

Eine Vergebung von Schuld stieß je nach Kontext aber an Grenzen. Nach theologischem Verständnis erfolgt sie durch Gott nach einem Schuldbekenntnis, wie es in der EKD-Entschließung zum Eichmannprozess 1961 hoffnungsvoll anklang und ganz auf Stempels Linie lag: „Keine Schuld ist so groß, dass sie ausgenommen wäre von der Vergebung Gottes, die uns erworben und angeboten ist in Sühnetod und Auferstehung unseres Herrn.“

Stempels Vorstellung eines dreigliedrigen Entschuldungsprozesses der Täter barg jedoch einen unauflösbaren Widerspruch in sich. Um auf eine Begnadigung hinwirken zu können, musste die juristische Schuld relativiert werden. Dies jedoch verhinderte die Annahme einer persönlichen Schuld des Täters und erleichterte die Selbstwahrnehmung als Verführter eines Unrechtsregimes. Doch wer sich zum Opfer stilisiert, hat seine Schuld nicht wirklich angenommen. Dabei gerieten die eigentlichen Opfer des NS-Regimes völlig aus dem Blick.

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