Die Dokumentation: Vergebung und Versöhnung

Gedanken zur Seelsorge an nationalsozialistischen Tätern in der Adenauerzeit • von Martin Leiner

Wollte Nationalsozialisten in die Bundesrepublik integrieren: Konrad Adenauer. Foto: epd

Der kirchliche Umgang mit Sünde und Schuld ist unterschieden vom juristischen Umgang mit Schuld. Das gilt auch für den kirchlichen Umgang mit den nationalsozialistischen Tätern nach 1945, der aufgrund des Engagements von Kirchenpräsident Hans Stempel in die Debatte geraten ist. Der Inhalt des juristischen Urteilsspruchs ist die Festsetzung einer Strafe. Als Gefängnisstrafe führt diese meist zur Isolierung des Täters.

Christliche Seelsorge bringt den Zusammenhang von Sünde, Versöhnung, Schuld und Vergebung in die Gefängnisse. Die universale Wirklichkeit von Sünde und Versöhnung eröffnet die Möglichkeit des Schuldbekenntnisses und der Bitte um Vergebung vor Gott und den Menschen. Wollte man eine Gruppe von der Seelsorge ausschließen, würde man sich gegen die christliche Botschaft von der Versöhnung der Welt wenden. Selbst wenn einzelne Taten noch so widerwärtig sind, kann man die Straftäter nicht in eine Sonderposition bringen. Die NS-Verbrechen hätten sonst die Kraft, die Heilsgeschichte Gottes infrage zu stellen.

Christus identifiziert sich in Matthäus 25 mit den Gefangenen, ohne auf eine Differenz zu verweisen: „Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen“ (Matthäus 25, 36). Dies ist der Grundtext, in dem die Heiligkeit der Person und damit die unantastbare Menschenwürde für alle, auch für die in besonderer Weise schuldig Gewordenen, zum Ausdruck kommt.

Deshalb ist die Seelsorge auch an NS-Tätern als richtig und gut zu bewerten. Die Seelsorge sollte den Tätern die Möglichkeit zum Schuldbekenntnis, das Angebot der Vergebung durch Gott und die Begleitung auf einem Weg zu einem neuen, anderen Menschen als Anliegen verfolgen. Die unbedingte Geltung grundlegender Prinzipien wie „Du sollst nicht morden“, die Realität der Schuld, die Notwendigkeit, die Schuld auch vor den Opfern einzugestehen und sie um Vergebung zu bitten, können wirksame Gegenmittel gegen die Gefahr der Predigt einer billigen Gnade sein.

Problematisch ist, wenn Seelsorge sich mit Forderungen von Amnestie und vorzeitiger Haftentlassung beschäftigt. Damit wird der Schritt in eine andere Systemlogik, nämlich in die juristische Aufarbeitung, unternommen. Aber die Vergebung durch Gott und durch die Menschen ist klar zu unterscheiden von Amnestie und vorzeitiger Haftentlassung. Vergebung ist das souveräne Recht der Opfer. Sie gewähren sie zu dem Zeitpunkt, zu dem sie dazu bereit sind. Vergebung kann vor oder nach der Haftentlassung oder auch niemals geschehen. Selbst wenn das Opfer dem Täter vergibt, können Spezialprävention und Resozialisierung noch Jahre der Haft als sinnvoll erscheinen lassen.

Umgekehrt kann Haftentlassung wegen nicht mehr bestehender Gefahr für die Öffentlichkeit oder aus humanitären Gründen wie bei Alter und Krankheit auch ohne Schuldbekenntnis und Vergebung die richtige Entscheidung sein. Auch Haftbedingungen können so problematisch sein, dass Hafterleichterung oder Freilassung legitim gefordert werden können. Für christliche Seelsorger gibt es deshalb gute ethische Gründe, sich für Haftentlassung einzusetzen.

Seelsorger konnten deshalb Gesuche auf Haftentlassung von NS-Tätern stellen, wenn die Täter schon lange in Haft saßen, wenn sie ein Abrücken von den Taten und eine Rückkehr in die Gesellschaft zeigten oder wenn ihre Gesundheit mit den Haftbedingungen unvereinbar war. Diese Initiativen sollten in aller Regel von denen ausgehen, die im Gefängnis die Straftäter betreuten. Aber dass 1953 schon ein solches Gesuch bei Haupttätern gestellt wurde, halte ich für nicht angebracht. Dass es dennoch zu zahlreichen Haftentlassungsgesuchen in den 1950er Jahren kam, hängt mit der damaligen Politik zusammen.

Der leitende Ansatz damals war bestimmt von der Bemühung, die Täter der NS-Zeit in die Bundesrepublik zu integrieren. Die NS-Ideologie wurde aus der politischen Öffentlichkeit mehr oder weniger erfolgreich herausgehalten, aber die Personen sollten schnell wieder ihre Positionen in dem neuen Staat erhalten. Bereits in seiner ersten Regierungserklärung am 20. September 1949 betonte Adenauer: „Der Krieg und auch die Wirren der Nachkriegszeit haben eine so harte Prüfung für viele gebracht und solche Versuchungen, dass man für manche Verfehlungen und Vergehen Verständnis haben muss.“ Amnestiegesetze folgten bald. 1949 wurde Straffreiheit für alle Taten gewährt, die vor dem 15. September 1949 begangen wurden und mit bis zu sechs Monaten Gefängnis geahndet werden. Im April 1951 wurde ein Gesetz beschlossen, das mehr als 300000 Beamten die Rückkehr in ihre Stellungen erlaubte. 1954 folgte ein zweites Straffreiheitsgesetz für alle Taten während des Zusammenbruchs, die zu Strafen bis zu drei Jahren Gefängnis führten, aber durch Amtspflicht oder Befehl gefordert worden waren.

Weitere Schritte erfolgten durch das Verjährungsrecht. Seit Mai 1960 waren alle in der NS-Zeit begangenen Verbrechen außer Mord und Totschlag verjährt. Auch Beihilfe zum Mord oder Körperverletzung mit Todesfolge waren straffrei. Die Debatten um die Verjährung von Mord als NS-Verbrechen führten dazu, dass 1979 die Verjährung für Mord generell aufgehoben wurde.

Dass Mord und damit auch Beteiligung an Völkermord nicht verjähren, ist gut und richtig. Verjährungen sind billige Gnade. Ähnlich wie die Begnadigung an Geburtstagen von Landesherren nehmen sie dem Rechtswesen seinen Ernst, weil sie so tun, als würde die Zeit als solche das Verbrechen tilgen und vergeben. Diese Auffassung widerspricht der christlichen Botschaft von der von Gott und nicht vom Ablauf der Zeit ausgehenden Versöhnung.

Neben der „inneren Befriedung“ durch Straffreiheit stand auch das Projekt, die BRD als fürsorglichen Staat darzustellen, der sich um seine Bürger kümmert, im Zentrum der damaligen Politik. Die Rückkehr des Saarlands, das Nachhausebringen der Kriegsgefangenen und eben auch der Einsatz für die Freilassung von NS-Tätern in Gefängnissen der Alliierten und im Ausland, waren in Sicht insbesondere der Politiker in der CDU und CSU notwendige Schritte, um ein Scheitern der Demokratie zu vermeiden.

Es ist eine komplexe Aufgabe, die Legitimität der Integrationspolitik der Adenauer-Ära gerecht zu beurteilen. Was den Einsatz für die Freilassung von NS-Tätern anbelangt, scheint mir aber klar: Es war ein Fehler und in vielen Fällen moralisch verwerflich. Nicht verwerflich wäre dieser Einsatz gewesen, wenn ethische Kriterien zur Anwendung gekommen wären, also Hafterleichterung im Krankheitsfall oder die Haftentlassung nach einer entsprechenden Zeit aufgrund von öffentlich bekannter Schuld und glaubhafter Reue. Das Problem war, dass dies alles kaum vorlag. Es ging darum, so schnell wie möglich so vielen wie möglich wieder eine Rückkehr in die Freiheit zu ermöglichen. Da diese Politik zudem verbunden war mit einer mangelhaften Konfrontation der deutschen Bevölkerung mit den Verbrechen der NS-Zeit, verhinderte die Amnestiepolitik einen weitergehenden Wandel in den Denkweisen der Bevölkerung vor den 1960er Jahren.

Die Amnestien und Verjährungsregelungen führten auch nicht zu größerem inneren Frieden. Sie belasteten die Gesellschaft mit Kameradentreffen von SS- und Wehrmachtsoldaten, die Kriegsverbrechen begangen hatten, mit Lehrern, die den Habitus einer faschistischen Erziehung weitertrugen, sowie mit Juristen, die rassistische Urteile fällten. Wie etwa 1956, als der „Bundesgerichtshof entschied, bis zur Deportation nach Auschwitz sei die Verfolgung von den ,asozialen Eigenschaften der Zigeuner‘, nicht aber „rassenideologisch“ motiviert gewesen. Die Minderheit habe „auch schon früher Anlass gegeben“, sie „besonderen Beschränkungen zu unterwerfen“.

Der Einsatz für die NS-Täter war auch nicht Teil der Versöhnungspolitik mit den Staaten des Westens oder Israels, sondern stand in vielfacher Spannung zu ihr. Versöhnungspolitik hätte verlangt, dass die kirchlichen Schuldbekenntnisse als Ermutigung zu individuellen Schuldbekenntnissen wirksam geworden wären, und dass man sich auf allen Ebenen für die Wahrheit, das Bekennen von Schuld und die Bitte um Vergebung eingesetzt hätte.

Die Beteiligung eines Kirchenpräsidenten an dieser Politik war ethisch gesehen zumindest ein Fehler, wenn nicht verwerflich. Es war freilich nicht der Fehler eines Einzelnen, sondern der überwiegenden Mehrheit in der Kirche und mehr noch der Fehler einer ganzen Zeit der deutschen Geschichte. Jede Beurteilung des Verhaltens eines Einzelnen darf diesen Zusammenhang nicht aus den Augen verlieren.

Prof. Dr. Martin Leiner lehrt systematische Theologie an der Universität Jena. Redaktionell gekürzter Vortrag vom 29. Oktober bei der Evangelischen Akademie der Pfalz.

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