Die Dokumentation: Nährboden für Populisten

In der Corona-Krise erwachen EU-Institutionen nur langsam aus der Schockstarre • von Katrin Hatzinger

Krise der Solidarität: Sitz und Hauptgebäude der EU-Kommission in Brüssel. Foto: epd

Das hatte sich die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sicherlich anders vorgestellt. Wäre es nach ihren Plänen gegangen, sollte das Frühjahr 2020 geprägt sein von der Debatte um ihre Vorschläge zum grünen Deal, dem Neustart in der Asylpolitik, zu Digitalisierung und dem Startschuss zur Konferenz zur Zukunft Europas. Stattdessen hat das Coronavirus die Regie übernommen und könnte für die EU und ihre Mitgliedsstaaten – glaubt man etwa der Einschätzung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel – die größte Herausforderung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs darstellen.

Dabei erwies sich die Pandemie als „Stunde der Exekutive“, aber auch als Stunde der Nationalstaaten. Allen Ermahnungen aus Brüssel zum Trotz agierten die Mitgliedsstaaten zu Beginn der Krise entgegen anderslautender Beteuerungen zunächst völlig unabgestimmt und im puren Eigeninteresse. Grenzen wurden über Nacht ohne Vorwarnung geschlossen, Schutzmaterial mit einem Exportverbot belegt. Brüssel musste hilflos zuschauen. Vom „europäischen Geist der Solidarität“ war nicht viel zu spüren. Im Gegenteil nutzen einige Mitgliedsstaaten die allgemeine Unsicherheit, um unter dem Deckmantel der Viruseindämmung Rechtsstaatsprinzipien außer Kraft zu setzen und Grundrechte auszuhebeln. Zu beobachten in Ungarn, wo sich Präsident Orban per Notstandsgesetz Sondervollmachten ausstellen ließ, die es ihm ermöglichen, unbegrenzt per Dekret und ohne parlamentarische Kont­rolle zu regieren.

Dazu kam ein teils sehr scharf geführter Streit um die Einführung von Corona-Bonds, also jene Art gemeinschaftlicher Wertpapier-Anleihen mit der Folge einer gemeinschaftlichen Haftung in der Euro-Gruppe, die vor allem von Italien und Spanien als einziges probates Mittel dargestellt wurden, um die Wirtschaft der besonders vom Virus gebeutelten Staaten zu retten. Von Staaten also, die bereits vor der Pandemie hoch verschuldet waren. Im Zuge der hitzigen Debatte tauchten tief sitzende Ressentiments und Feindbilder aus der Eurokrise 2008 zwischen Nord- und Südeuropa wieder auf. Ein gefährlicher Nährboden für Populisten und Europafeinde.

Die EU-Kommission wirkte in dieser Lage zunächst eher wie eine Randfigur denn als der zentrale Player, bei dem alle Fäden zusammenlaufen. Dabei muss der Fairness halber darauf hingewiesen werden, dass laut den EU-Verträgen im Bereich der öffentlichen Gesundheit und Gesundheitsversorgung vorrangig die Mitgliedsstaaten zuständig sind, sodass das Fehlen einer europäischen Antwort auch den rechtlichen Rahmenbedingungen zuzuschreiben ist.

Der ständige Vertreter Deutschlands bei der EU, Botschafter Michael Clauß, hat bereits Anfang April in einem Vermerk an das Kanzleramt und diverse Ministerien deutlich gemacht, dass das Virus auch den Kalender der im Juli beginnenden EU-Ratspräsidentschaft der Bundesrepublik bestimmen und das geplante Programm in weiten Teilen obsolet machen werde. Er warnte vor massiven Problemen, da die gewohnte Art, in Brüssel Politik zu machen, massiv erschwert werde. Deshalb gehe es nun um nicht weniger als „die Handlungsfähigkeit der europäischen Institutionen, Krisenmanagement, Exit und Wiederaufbau – womöglich die Aufrechterhaltung der EU-Integration an sich“, warnte der Top-Diplomat.

In einem Videopodcast unterstrich die Bundeskanzlerin, dass die deutsche Ratspräsidentschaft von der Bekämpfung der Pandemie geprägt sein werde. Neben dem wirtschaftlichen Wiederaufbau ginge es um die Stärkung des sozialen Zusammenhalts, aber auch wichtige Zukunftsthemen wie Klima und Umwelt dürften nicht aus dem Blick geraten. Es sei aber auch nötig, Reformen anzugehen und das Zusammenwachsen Europas zu befördern, etwa den Aufbau leistungsfähiger EU-Gesundheitssysteme voranzutreiben oder endlich eine Finanztransaktionssteuer auf den Weg zu bringen.

Etliche Gesetzgebungsverfahren werden sich jedenfalls verzögern, auch weil die für die Gesetzgebung nötigen Trilogverhandlungen zwischen Rat, Parlament und Kommission aufgrund der technischen Probleme nicht stattfinden können. In der Zwischenzeit haben sich zumindest die EU-Kommission und der Rat zunehmend aus der ersten Schockstarre befreit und wollen durch eine Reihe von Maßnahmen unter Beweis stellen, dass die EU auch als Krisenmanagerin bestehen kann.

Darüber hinaus hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 6. April 2020 in einem Gastbeitrag für die „Welt am Sonntag“ bereits verlautbart, dass es einen „Marshall-Plan für Europa“ inklusive massiver Investitionen brauchen werde, um die wirtschaftlichen Folgen der Krise abzufedern. Eine zentrale Rolle werde dabei der nächste mehrjährige Finanzrahmen der EU für die Jahre 2021 bis 2027 spielen. Ferner haben von der Leyen und der Präsident des Europäischen Rats Charles Michel einen Fahrplan für die nationalen Exit-Strategien vorgestellt, mit der sich die EU als Koordinatorin nationaler Maßnahmen einbringen will. Dabei befindet zunächst jeder Mitgliedsstaat selbst darüber, wann und in welcher Form es zu Lockerungen der Ausgangsbeschränkungen kommen kann. Entscheidend sei aber, dass dies in koordinierter Weise erfolge.

Auf ihrer vierten Videogipfelkonferenz zur Bewältigung der Corona-Krise haben die europäischen Staats- und Regierungschefs das von den europäischen Finanzministern bereits verabschiedete Hilfspaket in Höhe von 540 Milliarden Euro gebilligt. Ratspräsident Michel hatte zu Beginn der Sitzung noch einmal an den Zusammenhalt appelliert. „Wie gut es einem einzelnen Staat in Europa geht, hängt davon ab, wie gut es der EU als Ganzes geht“, so Michel. Zum 1. Juni 2020 sollen die Staatshilfe aus dem Euro-Rettungsfonds ESM abrufbar sein sowie das Instrument SURE zur Finanzierung der Kurzarbeit und Kredite für Unternehmen von der Europäischen Investitionsbank bereitstehen. Zudem hat auch die Europäische Zentralbank (EZB) wesentlich schneller als in der Finanzkrise ab 2008 die Zeichen der Zeit erkannt: Sie hat deshalb ein Anleihen-Kaufprogramm für den Pandemienotfall (PEPP) in Höhe von 750 Milliarden Euro gestartet, um öffentliche und private Schulden auf den Märkten aufzukaufen.

Erfreuliche Zeichen europäischer Solidarität zeigten sich auch bilateral unter den Mitgliedsstaaten, etwa in den umfangreichen gemeinsamen Rückholaktionen im Ausland gestrandeter Europäer und dem Export von Schutzkleidung, Beatmungsgeräten sowie der gegenseitigen Aufnahme schwer erkrankter Patienten aus dem EU-Ausland.

Trotz dieser ermutigenden Signale lässt die Pandemie zahlreiche Risse im Fundament des europäischen Hauses sichtbar werden. Das Schengen-System ist aktuell weitgehend durch die eingeführten Grenzkontrollen außer Kraft gesetzt. Die Zukunft der europäischen Integration steht mehr als jemals zuvor auf dem Spiel. Größte Herausforderung wird der Umgang mit den massiven wirtschaftlichen Folgen der kommenden weltweiten Rezession und der Weltwirtschaftskrise sein. Darüber hinaus ist die Zukunft des Euroraums in Gefahr. Auch die zahlreichen Rechtsbrüche unter dem Deckmantel der Virus-Bekämpfung bereiten große Sorgen, nicht allein in Ungarn. Die Bewahrung der Rechtsstaatlichkeit in der EU bleibt neben dem wirtschaftlichen Wiederaufbau möglichst ohne soziale Verwerfungen und unter Berücksichtigung der gesteckten Klimaziele die zweite große Herausforderung, die es zu meistern gilt.

Schließlich erleben wir erneut eine Krise der Solidarität, die sich besonders deutlich in der Asylpolitik manifestiert und auf dem Rücken der Schwächsten lastet. Selbst der Ausbruch des Virus hat die menschenunwürdige Situation in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln bisher kaum verbessert. Unter den aktuellen Bedingungen eine Einigung über die dringend notwendige Reform des europäischen Asylrechts zu erzielen, die alle 27 Staaten mittragen, erscheint schwieriger denn je zuvor.

Wir erleben aktuell eine globale Krise nie dagewesener Dimensionen. Es ist klar: Das Virus wird uns alle noch länger beschäftigen und unsere Lebensgewohnheiten einschränken. Noch sind die gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und geopolitischen Auswirkungen in ihrer Gänze nicht vollumfänglich zu erfassen. Doch es ist auch klar, dass nur ein gemeinsames europäisches Handeln die massiven Konsequenzen des zu erwartenden Schocks für die europäische Wirtschaft und den sozialen Zusammenhalt dauerhaft abfedern kann. So bleibt die Hoffnung, dass die EU in der Krise wieder enger zusammenwächst und vielleicht sogar weitere Integrationsschritte vollziehen kann. Wann, wenn nicht jetzt, ist die Stunde Europas?

Oberkirchenrätin Katrin Hatzinger leitet das Brüsseler Büro des Bevollmächtigten des Rats der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union. Der Beitrag erschien in EKD-Europa-Informationen Mai/2020.

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