Die Dokumentation: Musik als ein Geschenk Gottes

Für Martin Luther macht Singen das Wort über das Begreifen hinaus einprägsam • von Christian Schad

Gottes Wort gepredigt und gesungen: Chor der Dresdener Frauenkirche. Foto: epd

Als Martin Luther auf seine entscheidende reformatorische Entdeckung zurückblickte, beschrieb er sie als Entdeckung der wahren Bedeutung der biblischen Rede von „Gottes Gerechtigkeit“. Luther schreibt im Jahre 1545, ein Jahr vor seinem Tod: „Ich hasste nämlich diesen Ausdruck ,Gerechtigkeit Gottes‘, den ich philosophisch zu verstehen gelehrt worden war im Sinne der sogenannten formalen Gerechtigkeit, gemäß welcher Gott selbst gerecht ist und die Sünder und die Ungerechten straft … Bis Gott sich meiner, der ich Tag und Nacht grübelte, erbarmte und ich den Zusammenhang der Wörter betrachtete; nämlich ,Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium offenbar, wie geschrieben steht: Der Gerechte wird aus Glauben leben.‘ … Da fühlte ich mich ganz und gar neu geboren: Die Tore hatten sich mir aufgetan; ich war in das Paradies eingegangen.“

Luthers Entdeckung war eine Wiederentdeckung biblischer Wahrheit. Sie bestand darin, den Ort der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes ernst zu nehmen. Nicht im fordernden Gesetz, sondern im Evangelium, im Wort von der Gnade Gottes, wird seine Gerechtigkeit offenbar. Dass es das gibt: eine Welt – Himmel und Erde – und unter dem Himmel auf Erden den Menschen und alle Geschöpfe, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, das verdanken wir einem Gnadenakt Gottes; das ist der Ausdruck für Gottes schöpferische Liebe.

Es ist wohl die übermütige Freude des christlichen Glaubens, wenn Paulus sagt, dass nichts, „weder Tod noch Leben, weder (okkulte) Engelmächte noch (sichtbare) Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur, uns trennen kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus erschienen ist“. Und weil diese Person wahrhaftiger Gott und wahrhaftiger Mensch ist, das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, deshalb ist „Gnade“ nicht nur das erste, sondern auch das letzte Wort, das über uns entscheidet. Dass Gott im Himmel und auf Erden und selbst im Jüngsten Gericht noch an seiner Gnade festhält, dieses im Leben und im Sterben allein gewiss machende Wort nennt Luther im ­Anschluss an Paulus „Evangelium“. „Evangelium ist ein griechisch Wort, und heißt auf Deutsch gute Botschaft, gute Mär, gute Neuzeitung, gut Geschrei, davon man singet, saget und fröhlich ist.“

Evangeliumsgemäße Kirche ist darum nie Selbstzweck; sie dient. Sie ist Instrument des Worts, das alle Menschen erreichen soll, damit sie lernen, sich als von Gott unendlich geliebte – und also begnadete Menschen zu verstehen. Kirche ist darum, wie Luther sagt, ein „Mundhaus, nit ein Federhaus“. „Darum auch Christus selbst nichts geschrieben, sondern nur geredet hat.“

Von daher verwundert es nicht, dass Luther die Wirklichkeit vornehmlich durch das Ohr wahrgenommen hat. Von frühester Zeit an bezeichnet er das Ohr – und nur das Ohr – als das ausgewiesene Sinneswerkzeug eines Christenmenschen, „weil er nicht durch die Werke …, sondern durch den aus dem Hören kommenden Glauben gerechtfertigt und zum Christen gemacht wird“. Und sofern die Musik an hervorragender Stelle zu den Dingen zählt, die im Hören auf uns zukommen, kann Luther sie als eine Art „Naturform des Evangeliums“ bezeichnen.

Wohlgemerkt! Es geht ihm nicht um das Lob der menschlichen Stimme oder der Musik als solcher. Wie alles, so sind auch Stimme und Musik Gefährdungen: der Verführung und dem ­Missbrauch ausgesetzt. So wie jene schreckliche Stimme, die während des sogenannten „Dritten Reichs“ ihre gewaltsame Stimmung und ihre herrschende Bestimmung so vielfältig ausbreitete. Es war, als ob ein ganzes Volk im Banne einer riesigen Stimme stand. Und es soll Menschen geben, die noch heute – bis in ihre Träume hinein – von dieser Stimme verfolgt und sie nicht loswerden.

Das gehört offenbar zum Wesen einer Stimme, dass sie in einen Menschen tief eindringen und ihn im wörtlichen Sinne be-stimmen kann. Und darum hängt alles daran, ob die Stimme in der Gewalt eines Despoten, also im Dienst des Todes steht – oder aber im Dienst des gnädigen, Leben und Versöhnung schaffenden und bewahrenden Gottes.

Für Luther jedenfalls erfüllen Sprache und Musik erst dann ihren schöpfungsmäßigen Sinn, wenn sie sich – direkt oder indirekt – mit dem Evangelium, mit dem lebendigen Zuruf der göttlichen Gnade verbinden. Als Kreatur, als Geschöpf Gottes, kommt die Musik bei Luther geradezu universal in Betracht. Es gehört für ihn zu den ganz großen Wundern der Schöpfung, dass es nichts in der Welt gibt, „das nicht einen Schall und Laut von sich gäbe; alles Geschaffene“, so Luther, „hat seine Musik“! Er denkt hier an die Pflanzen und an die Tiere, an die „Blümlein und Vögelein“, die, wie er sagt, „das Evangelium am Hals geschrieben“ haben, und deren Stimmenvielfalt an Gottes unermessliche Weisheit erinnert.

Erst recht gilt dies aber von der menschlichen Stimme, „gegen welcher alle andere Gesänge, Klang und Laut, gar nicht zu rechnen sind“. „Ich liebe die Musik“, sagt Luther, „weil sie ein Geschenk Gottes (ist) und nicht der Menschen, weil sie die Seelen fröhlich macht, weil sie den Teufel verjagt, weil sie unschuldige Freude weckt. Darüber vergehen die Zornwandlungen, die Begierden, der Hochmut. Ich gebe der Musik den ersten Platz nach der Theologie. Das ergibt sich aus den Beispielen Davids und aller Propheten, weil sie all das Ihre in Metren und Gesängen überliefert haben.“

Das Singen, also die wortgebundene Musik, um die es Luther immer zuerst geht, erscheint damit als ein unvergleichliches Organ für die Verkündigung des Evangeliums. Als solches leitet es das Wort der Gnade, der Freude und des Danks aus Herz und Mund heraus und wieder, auch wenn es ganz auf Gott gerichtet ist, auf den hörenden Menschen zu. Dabei charakterisiert Luther das Verhältnis von Wort und Musik so: „Die Noten machen den Text lebendig“, sodass er sich den Hörern noch kräftiger einprägt als die einfache Rede. „Das Loben mit Wort und Musik“, sagt er, „ist eine klingende Predigt.“ Das Singen macht das Wort über alles verstandesmäßige Begreifen hinaus einprägsam und unvergesslich. Darum kann Luther 1525 geradezu als Motto formulieren: „Gottes Wort … will gepredigt und gesungen sein!“

Gesprochene und gesungene Predigt stehen also gleichberechtigt nebeneinander, wobei das gesprochene Wort stärker den Verstand, das gesungene stärker Gefühl und Willen anspricht. Die Musik hat im Gottesdienst gegenüber der Predigt keine zweitrangige Funktion. Sie ist nicht bloßer Zierat, auf den ohne Schaden verzichtet werden könnte. So, wie alle Stücke des Gottesdiensts teilhaben an der Verkündigung, so auch das Lied der Gemeinde und das gesungene Wort des Chors.

Verkündigungsmusik und Predigt sind unzertrennlich miteinander verknüpft und wirken zusammen an der gemeinsamen Aufgabe, das Evangelium öffentlich auszurufen: „zu singen und zu sagen“, wie freundlich der Herr ist. Auf diese Weise erklärt Luther die Gemeinde – die im Gottesdienst versammelte Gemeinde – zur lebendigen Stimme, die das Wort Gottes mit ausbreitet und ihm in Lobpreis und Anbetung antwortet. Ihr legt er das Gemeindelied in den Mund und macht sie damit auch im Gottesdienst mündig. Er beruft sich dabei auf den Kolosserbrief, Kapitel 3, Vers 16, wo Paulus sagt: „Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen; lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.“

Im gemeinsamen Singen verwirklicht sich für Luther das Priestertum aller Glaubenden. Er sagt: „Die Musica … hilft sehr wohl zur Andacht. Sonderlich, wo die Gemeinde mitsingt, und es fein ernstlich zugehet.“ Jeder Choral, jede Kantate, jedes geistliche Konzert ist ein Stück Predigtdienst, der der Gemeinde als Ganzer aufgetragen ist. Und wo in Chören Woche für Woche Menschen zusammenkommen, um zu üben und zu lernen, sich mit geistlichen Inhalten und biblischen Texten auseinanderzusetzen – nicht nur, um sie einfach in sich aufzunehmen, sondern um sie in guter und wohl artikulierter Weise auch weiterzugeben, einander zu stärken und zu trösten, da ereignet sich Kirche als das, was sie ist: als lebendige Gemeinschaft der Glaubenden.

Auf diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Reformation ihrem innersten Wesen nach eine Singbewegung war. Neben der Bibel wurde das Gesangbuch zur wichtigsten Quelle der protestantischen Gemeinden. Viele, vielleicht die meisten aus der Anhängerschaft Luthers, haben sich in den neuen Glauben nicht bloß hineingedacht, sondern sie haben sich hingebungsvoll in ihn hineingesungen.

Dr. h. c. Christian Schad ist Präsident der Evangelischen Kirche der Pfalz. Den hier gekürzt wiedergegebenen Vortag hielt er am 1. Oktober in Maikammer.

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