Die Dokumentation: Karl Barth und die liberale Theologie

Bemerkungen über ein erinnerungswürdiges Kapitel der neueren Theologiegeschichte • von Udo Sopp

Ein wichtiger Theoretiker des Neuprotestantismus: Ernst Troeltsch. Foto: wiki

Gegen Karl Barth sind wir alle nur Zwerge.“ Das Zitat stammt von Paul Althaus (1888 bis 1966), dem Zeitgenossen Barths in Erlangen. Überliefert ist dieser Ausspruch in der Autobiografie Walther von Loewenichs (1903 bis 1992), einem früheren Anhänger Barths, der unter dem „Druck“ historisch-kritischen Denkens seine Konversion zu neuprotestantischem Denken vollzogen hatte.

Karl Barth (1886 bis 1968) selbst war durchaus im neuprotestantischen Denken geschult durch seine Studien in Bern, Berlin und Marburg. Doch dann kam vor 100 Jahren Barths Paukenschlag, die revolutionäre Umorientierung: weg von Friedrich Schleiermacher (1768 bis 1834) und allen Epigonen des Neuprotestantismus. Die ehemaligen Freunde und Gesinnungsgenossen wurden zu Gegnern und theologischen Falschdenkern erklärt.

Man fragt sich deshalb: Waren die Schweizer liberalen Theologen um Martin Werner, Fritz Buri und Ulrich Neuenschwander, in der Schweiz bekämpft und in Deutschland totgeschwiegen, von allen guten Geistern verlassen oder von einem guten Geist geleitet, als sie den späten Karl Barth nach den „Chancen des theologischen Liberalismus heute“ befragten?

Ausgerechnet Karl Barth, der vielfältig apostrophierte Vater der Neo-Orthodoxie und Wiederbeleber der altprotestantischen Dogmatik, hat im Juli 1960 in der Schweizerischen Theologischen Umschau über „Möglichkeiten liberaler Theologie heute“ nachgedacht. In diesem Aufsatz bietet Barth mehrere Möglichkeiten an. Darunter ist auch ein „neuer Einsatz bei Schleiermacher“.

Der Begriff liberale Theologie ist schillernd. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Ernst Troeltsch (1865 bis 1923) für diese Denkbewegung, Lebens- und Kirchengestaltung den Begriff Neuprotestantismus eingeführt hat. Sein Kennzeichen besteht in zwei wichtigen Haftpunkten, nämlich Reformation und Aufklärung. Er hat die Moderne mit heraufgeführt, durchsetzt und mitbestimmt. Liberales, neuprotestantisches Denken hat viele theologische Entwürfe geliefert, nicht zuletzt angeregt und im Schlepptau von Philosophen wie Kant und Hegel.

Von Loewenich hat die Wesensmerkmale des Neuprotestantismus zusammengestellt. Er rechnet dazu die religiöse Autonomie und in Verbindung damit eine bestimmte Stellung zur Frage Vernunft und Offenbarung, Glaube und Geschichte, weiter die konsequente Anwendung der historischen Kritik auch auf die eigene Quellenlage des Christentums, auch den Zug zur „Praxis“. Gekennzeichnet sieht er den Neuprotestantismus auch durch die „offene Dialektik“ und den Versuch, ein „undogmatisches Christentum“ zu formulieren. Seine offene Dialektik sei auch gekennzeichnet durch einen synthetischen Zug, was sich in der Dialogbereitschaft mit anderen Religionen erschließe.

Ernst Troeltsch hat sich mit dem Kirchenverständnis Schleiermachers auseinandergesetzt und schreibt: „Die Zeit der allein selig machenden Einheitskirche, des einheitlichen geistigen Lebens und des alle umspannenden Dogmas hatte ihr Großes und Gewaltiges. Aber sie ist unwiederbringlich vorbei. Dann aber gibt es nur die Zeit der staatsfreien, auf den religiös-ethischen Wetteifer allein beschränkten Kirche mit dogmatischer und kultischer Beweglichkeit innerhalb der Grenzen des niemals schlechthin sicher formulierten christlichen Gemeingeistes.“

Synoden und Kirchenleitungen heute haben sich ganz in das „liberale Programm“ eingefädelt, sinnen auf Ausgleich, Kompromiss und Konsens. Das mag manchmal wenig aufregend sein, aber es ist der einzige Weg für den kirchlichen Protestantismus, wenn er sich nicht zur Sekte minimieren will. Schleiermacher, Troeltsch und andere Neuprotestanten stehen nah dabei und lassen grüßen. Kommunikationsmodelle und Akzeptanzverbesserung waren ganz ihre Sache, weil sie das „religiöse Selbstdeutungsinteresse“ des Menschen ernst nahmen. Dazu programmatisch Troeltsch: „Die Kirchen als Volkskirchen und große Organisationen müssen … bleiben, da sie nicht ersetzt werden können, da sowohl ein Gewimmel kulturloser Sekten als ein Zwangskurs angeblicher wissenschaftlicher Weltanschauung äußerst verhängnisvoll wäre. Aber sie müssen, wenigstens die protestantischen, elastisch werden zur Beherrschung der verschiedenen, mit der Religion sich eigentümlich verbindenden Strömungen des heutigen Lebens.“

Es ist in diesem Zusammenhang eine spannende Frage, wie sich die Christentumsgeschichte seit der Aufklärung auf die Entwicklung des neuzeitlichen Denkens in Gesellschaft und Kultur ausgewirkt hätte, wäre die Verabschiedung des Doktrinären am Christentum und die notwendige Umformung des christlichen Denkens entschiedener und ohne restaurative Tendenzen angepackt worden. Weil das nicht geschehen ist, sieht der religiöse Liberalismus bis zum heutigen Tag seine Aufgabe darin, hinzuwirken, dass sich der Boden unter den Füßen nicht noch weiter hebt, das Feld zu bereinigen und für die Entfaltung zeitgemäßen Glaubens fruchtbar zu machen. So ist für den religiösen Liberalismus zwangsläufig das Feld der Flurbereinigung und Fruchtbarmachung zugleich das Aufmarschgebiet seiner Gegner.

Der Münchner Theologe Jörg Lauster hat die Gegner benannt. Er stellt fest, „dass Religionen in unseren Tagen offensichtlich attraktiver erscheinen, wenn sie vom Modus der Nachdenklichkeit in den der Eindeutigkeit wechseln. Nicht das aufgeklärte, sondern das evangelikale und pfingstlerische Christentum wächst in der Gegenwart. Europäischen Christinnen und Christen, die ihre religiöse Praxis nicht an dem Erbe der Aufklärung vorbei gestalten können, bleibt im Moment wenig übrig, als diese Spannung auszuhalten.“

Zurück zur fragwürdigen Eindeutigkeit im theologischen Gewand, hier also zur Neo-Orthodoxie Karl Barths. Walther von Loewenich urteilt zur Auseinandersetzung mit Barth und zum Abschied von dieser Form der Eindeutigkeit folgendermaßen: „Karl Barth unterschied sich von seinen theologischen Zeitgenossen dadurch, dass er es wagte, mit einer selbstverständlich gewordenen Tradition zu brechen und unbeirrt von links oder rechts den entgegengesetzten Weg zu gehen. Er trat an das riesige Erbe mit neuen Augen heran, und es erschloss ihm ungeahnte Perspektiven. Darum wurde es immer erregend und interessant, wohin er sich auch auf theologischem Gebiet wandte. … Er konnte mit einem Wort blitzartig eine theologische Situation erhellen; es würde sich wohl lohnen, eine Sammlung seiner theologischen Pointen anzulegen. … Seiner Suggestivkraft war schwer zu widerstehen. Auch heute noch fasziniert es mich, wenn ich in seinen Briefen oder Aufsätzen lese. Es ist mir wahrhaftig nicht leicht gefallen, mich theologisch von der Welt Karl Barths zu trennen. … Natürlich geschah diese Loslösung vom theologischen Ansatz Karl Barths nicht mit einem Schlag, sondern in einem längeren Prozess. Sie bedeutete auch nicht ein völliges Abrücken; noch heute lese ich mit Gewinn in den Werken Barths. Seine Kritik am Neuprotestantismus muss ernst genommen werden; die Krisis des Neuprotestantismus war notwendig. Die Theologiegeschichte und die Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts sind ohne Karl Barth nicht denkbar. Durch seine politische Theologie hat er selbst in die Weltgeschichte eingegriffen. … Es könnte als kleinlich erscheinen, wenn ich trotzdem an meiner Kritik an Karl Barth festhalte. Der Ansatz dieser Kritik betrifft aber nichts Nebensächliches. Gerade an den beiden Punkten, an denen sich Barth von der gesamten neuzeitlichen Theologie distanzieren will, nämlich in der Verwerfung der Relevanz der historisch-kritischen Methode und des Erfahrungsbeweises in der Gewissheitsfrage, wird die Problematik seiner Theologie offenkundig. Seine Kritik am Neuprotestantismus bedeutet keine wirkliche Überwindung des Neuprotestantismus.“

Schwer zu verstehen und befremdlich für die neuprotestantische Sicht, dass der ganz späte Barth seine protestantische Neoorthodoxie der vatikanischen Orthodoxie bei einem Besuch in den vatikanischen Gemächern annäherte, zwar mit einem ganzen Katalog kritischer Fragen garniert, aber dennoch zu einer beunruhigenden, entlarvenden, gar erschreckenden Forderung verleitend: „Die Worte ‚protestantisch‘ und ‚Protestantismus‘ sähe ich gerne aus unserem Sprachschatz verschwinden.“

Nicht nur die Schweizer Liberalen hat Karl Barth beraten, sondern auch Pfälzer Protestanten, die das Protestantische wegdrücken wollten. Nach harten Kämpfen hat die Synode der Pfälzer Protestanten den Namen der Kirche, bis dahin bekannt als „Vereinigte Protestantisch-Evangelisch-Christliche Kirche der Pfalz“, im April 1978 in „Evangelische Kirche der Pfalz“ verkürzt und das Protestantische in Klammern gesetzt. Seitdem geht in pfälzischen Landen die Frage um, ob der Klammerzusatz im Namen auch das „Protestantische Prinzip“ mit einklammert. Oder soll es gar „veräußert“ und vergessen werden?

Kirchenrat i. R. Udo Sopp war bis 1999 Pressesprecher der Landeskirche. Der ausführliche Beitrag ist im „Pfälzischen Pfarrerblatt“ 1/2019 erschienen.

Meistgelesene Artikel