Die Dokumentation: In die Verantwortung gestellt

Wie der Begriff der Berufung in der Bibel unterschiedlich verstanden werden kann • von Norbert Schmidt

Berufung als Anfang der Nachfolge: Jesus und die Zwölf Apostel (antikes Fresko in den Domitilla-Katakomben in Rom). Foto: wiki

Im Alten Testament hat der Begriff Berufung eine ähnlich umfassende Bedeutung wie im Deutschen das Wort „rufen“. Von Interesse ist, dass sich das Wort auf das Eingreifen Gottes in das Leben eines Menschen im Sinne etwa einer Prophetenberufung bezieht – auch wenn dies selten vorkommt (rund zehnmal bei rund 760 Nennungen). Gemeint ist meist die Berufung eines Einzelnen, aber auch die Berufung des gesamten Volks. Berufung bedeutet ein besonderes Verhältnis zu Jahwe, eine intensive Beziehung, die auch Dienst für Gott einschließt. Vor allem in der Prophetenverkündigung kommen Berufung und Erlösung sehr eng zusammen, Ersteres kann als Synonym für Letzteres gebraucht werden.

Berufung im Neuen Testament wird repräsentiert durch die Wortgruppe „kaleo“. Die in diesem Zusammenhang stehenden Begriffe finden sich vor allem in den Schriften von Paulus.

1. Unverdiente Einladung

In den Evangelien ist von Berufung im Sinne des Rufs Gottes im Zusammenhang der Gleichnisse von der königlichen Hochzeit beziehungsweise vom großen Abendmahl die Rede (Matthäus 22, Lukas 14). Inhaltlich gehören dazu die Aussagen Jesu in Markus 2, 17: „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen zu rufen Gerechte, sondern Sünder (Lukas 5, 32: zur Buße).“

Auch wenn das Wort grundsätzlich auch „einladen“ bedeuten kann, so zeigt doch die Aussage Jesu in Markus 2 wie auch die ernsthaften Konsequenzen bei Matthäus, dass hinter diesen Worten mehr steht als die bloße Einladung zu irgendeinem Fest. Das Entscheidende für unseren Zusammenhang ist sicherlich die Tatsache einer Einladung, die Menschen gilt, die aus Gottes und aus eigener Perspektive in die Kategorie der Sünder fallen. Diese sind sich dann auch sehr wohl bewusst, dass die Einladung unverdient ist. In jedem Fall bleibt festzuhalten, dass es kein Recht auf Einladung oder Berufung gibt, sondern dass sie gänzlich unverdient ist. So kann man mit Offenbarung 19, 9 einstimmen: „Selig sind die zum Abendmahl des Lammes berufen sind.“

Es ist vor allem dieser Aspekt des Unverdienten, der in dem für viele Bibelleser so rätselhaften Abschnitt in Römer 9 zum Ausdruck kommt. Nicht die Werke, gemeint sind Werke des Gesetzes oder etwas salopp für uns „fromme Werke“, sondern „der Rufer“, sind ausschlaggebend – für den autonomen Menschen ein Affront, für den Menschen, der sich seiner Situation vor Gott bewusst ist, die einzige Hoffnung. Berufung ist unverdiente Einladung, die dann – in einem griechischen Wortspiel auf der Mehrfachbedeutung des im Griechischen für „berufen“ verwendeten Wortes „kaleo“ – dazu führt, dass Menschen Gottes Volk und Kinder des lebendigen Gottes genannt (klethesontai von kaleo) werden.

Gerade in den zu Anfang genannten Zusammenhängen der Prophetenverkündigung wird deutlich, dass diese Wahrheit schon im Alten Testament gilt, wo der Gnadenerweis Jahwes, die Zuwendung zum Volk Israel, die dann im Ruf Israels aus Ägypten (Hosea) oder aus dem babylonischen Exil (Jesaja) ihren Ausdruck findet, eben gänzlich unverdient ist. Gleiches ließe sich auch zu den von Jahwe gerufenen Propheten sagen – sie waren sich der eigenen Unwürde sehr wohl bewusst (Jesaja 6).

2. Am Anfang der Nachfolge

Paulus redet praktisch nicht von seiner Bekehrung oder der seiner Gemeinden. Viel dominanter als dieser menschliche Akt, von dem nur in 1. Thessalonicher 1, 9 die Rede ist, ist der göttliche Berufungsakt, der am Anfang alles christlichen Lebens steht.

Dies wird schon vor Paulus in den synoptischen Evangelien sichtbar, wo wir die sogenannte „Jüngerberufung“ beobachten können. Diese Geschichten sind bewusst nach dem Muster alttestamentlicher Berufungen von Propheten und verschiedenen Führergestalten erzählt und zeigen Jesus als den, der gleich Jahwe handelt und autoritativ in das Leben von Menschen hineingreift.

Und doch gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament, denn die Sonderstellung von Propheten und anderen Führergestalten gegenüber dem Volk ist aufgehoben. Die Knechte und Mägde werden prophezeien, so zitiert Petrus den Propheten Joel und erklärt diese Endzeitschau für in der Gegenwart erfüllt. Eine Schlüsselstellung nimmt in diesen Geschichten Markus 3, 13–14 ein, wo der Ruf zu Jesus mit einer zweifachen Zielvorgabe versehen wird, die zumindest nachösterlich in keinem Fall auf die dort genannten Zwölf oder eine sonstige eingeschränkte Jüngergruppe zu begrenzen ist.

Der göttliche Ruf, die Berufung, ist souveränes Handeln, das Menschen umwandelt, sie völlig umgestaltet. Darum ist dieser Ruf Gottes eine „heilige Berufung“ (2. Timotheus 1, 9). Als Berufene werden die Christen – und zwar alle! – Heilige genannt, zweimal erscheint auch die Zusammensetzung „berufene Heilige“ (Römer 1, 7 und 1. Korinther 1, 2). Sie sind Berufene Jesu Christi: entweder als Berufene durch Jesus Christus oder Berufene, die Jesus Christus gehören. Durch ihre Berufung sind sie in die Gemeinschaft mit Jesus Christus (1. Korinther 1, 9) und in den Leib Christi, seine Gemeinde, hineingestellt. Diese Berufung ist allein in Gott begründet; darum gibt es auch Gewissheit, weil seine Treue trägt (1. Thessalonicher 5, 24).

Zusammenfassend lässt sich sagen: Ohne Berufung keine Nachfolge. Die Berufung ist integraler Bestandteil jeder christlichen Existenz. „Berufene“ wird so zum Synonym für „Christen“. Doch weil diese Berufung Geschenk und autoritatives Handeln des allmächtigen Gottes zugleich ist, steht damit ein festes Fundament am Beginn unseres Lebens mit Gott, das nicht wankt.

3. In die Verantwortung gestellt

Eine Durchsicht der Worte, die mit „berufen“ zu übersetzen sind, fördert eine weitere wichtige Perspektive zutage. Berufung impliziert einen diesem göttlichen Handeln entsprechenden Lebenswandel. „Wandelt würdig eurer Berufung“, fordert Paulus die Epheser auf (Epheser 4, 1) und erläutert dann die Aspekte, die sich aus der Berufung ergeben, nämlich die Bruderliebe und die Einheit des Leibs Christi.

In anderen Zusammenhängen wird das Wort mit der Zielangabe „berufen zu …“ versehen. So sind Jünger „zum Frieden berufen“ (1. Korinther 7, 15). Sie sind zur Freiheit (vom Gesetz) berufen, ohne dabei die Freiheit zu missbrauchen (Galater 5, 13). Weiterhin sind sie zur Heiligung berufen, nicht zur Unreinheit (1. Thessalonicher 4, 7) und schließlich zur Nachfolge Christi, der gelitten hat, der keine Sünde getan hat und ohne Betrug war (1. Petrus 2, 21f.).

In all dem wird deutlich, dass Berufung wohl Fundament und Anfang der Nachfolge und doch nicht Besitzstand ist, auf den man bequem zurückblicken und auf dem man sich ausruhen könnte. Das von Paulus gebrauchte Bild spricht eher vom Gegenteil: „Ich jage aber nach dem vorgesteckten Ziel, der Berufung Gottes von oben in Christus Jesus“ (Philipper 3, 14). Berufung ist Geschenk und zugleich lebenslange Herausforderung. Sie stellt in die Verantwortung, das Leben in der Nachfolge dem Fundament angemessen zu bauen.

4. Paulus, berufener Apostel

Einige wenige Stellen verdienen schließlich besondere Beachtung, nämlich Römer 1, 1 und 1. Korinther 1, 1, wo Paulus von sich als dem berufenen Apostel spricht. Hier wird mit oder ohne expliziten Gebrauch von „kaleo“ betont, dass Paulus sein Apostelamt dem besonderen Ruf Gottes verdankt. Doch gerade in diesen Zusammenhängen werden die Glieder der von ihm angeredeten Gemeinde als „berufene Heilige“ oder als „Berufene Jesu Christi“ bezeichnet. So sind der Apostel und das Gemeindemitglied in gleicher Weise von Christus Berufene.

In den Pastoralbriefen, in denen ein Bezug von Berufung zum Dienst naheliegen würde, steht der Begriff in Bezug zur Berufung in die Gotteskindschaft beziehungsweise deren Ziel, dem ewigen Leben, nicht jedoch zum Dienst des Timotheus (oder Paulus).

Ertrag

1. Der Begriff ist so zu füllen, dass mit ihm die gnädige Zuwendung Gottes in Christus zu einem Menschen gemeint ist, in der der Mensch aus seiner Verlorenheit herauskommt und zu einem Jünger Christi wird.

2. „Berufung“ ist ein ganz und gar externer Akt, der menschliche Gehorsam wird zwar erwartet, steht aber in keiner Weise im Mittelpunkt.

3. „Berufung“ führt zu einer Umwandlung, sie macht aus einem verlorenen Menschen ein Kind Gottes, aus einem Sünder einen Christen.

4. „Berufung“ ist notwendige Bedingung für jede christliche Existenz – ohne Berufung kein Christsein, ohne Berufung keine Errettung.

Prof. Dr. Norbert Schmidt ist Rektor der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg. Der Beitrag erschien in „Wir – Magazin des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes“.

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