Die Dokumentation: Die Suche nach gelingendem Leben

Bibel und reformatorisches Erbe machen Bildung zum Wesensmerkmal der Kirche • von Dorothee Wüst

Reformator und Schulgründer: Melanchthon-Denkmal in Wittenberg. Foto: epd

Es gibt gute Gründe dafür, warum Kirche ohne Bildung nicht denkbar ist, warum Bildung Wesensmerkmal von Kirchesein ist. Sowohl unsere biblischen Grundlagendokumente wie auch unser reformatorisches Erbe setzen uns notwendig auf die Bildungsspur. Als Kirche können wir es uns nicht aussuchen, ob wir Bildung betreiben oder nicht. Wenn wir ernst nehmen, was wir von unseren Wurzeln her sind und sein sollen, ist Bildung nicht Kür, sondern Pflicht.

Bildung als Persönlichkeitsentwicklung im Licht des Glaubens orientiert sich an dem im Glauben offenbarten Gott, von dem wir über die Schriften des Alten und Neuen Testaments wissen. Über einen relativ großen Zeitraum in literarisch völlig unterschiedlichen Stilen und mit inhaltlich unterschiedlichen Vorgaben erzählen die biblischen Schriften von A wie Adam bis O wie Offenbarung von der Geschichte Gottes mit den Menschen.

Sie erzählen diese Geschichte als Bildungsgeschichte. Und die beginnt tatsächlich bei der Schöpfung. Und Gott sprach: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei.“ Ebenbild Gottes, das ist die Ursprungssetzung für unser Menschsein. Wir sind nicht aus uns selbst geschaffen, sondern Schöpfung. Wir sind so nah an Gott wie sonst kein anderes Schöpfungswerk, aber eben nicht der Schöpfer. Ich bin Mensch und muss doch erst der Mensch werden, der ich vor Gott schon bin. Das gelingt nur im aufrichtigen Bemühen um eine Beziehung zu Gott, was die Alten übrigens Gottesfurcht nannten.

Das ist der Kern christlichen Bildungsverständnisses, der in den biblischen Schriften immer wieder aufs Neue durchexerziert wird. Menschen mit mehr oder weniger großem Erfolg auf der Suche nach Schalom, nach gelingendem Leben in Harmonie mit sich, den Menschen und Gott, ziehen sich wie ein roter Faden durch unsere Heilige Schrift. Als Christen schauen wir dabei besonders auf das Kapitel, in dem Jesus Christus die Hauptrolle spielt. Viele Titel und Rollen werden ihm zugeschrieben, eine davon ist der Lehrer, der Rabbi. Er schart immer wieder Menschen um sich, die in seinen Worten hören und lernen, wie sich im Lichte des Reichs Gottes individuelles und gesellschaftliches Leben denken, glauben und gestalten lässt.

In der Beschäftigung mit Jesu Leben und Lehre liegt bis heute Orientierung, mit welcher Haltung, mit welchen Werten, mit welchen Prioritäten Christen durchs Leben gehen wollen und sollen. Und das, was sie erkennen, sollen sie weitersagen: „Lehrt sie zu halten alles, was ich euch geboten habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Kommunikation des Evangeliums in Wort und Tat. Damit ist ein Bildungsprozess beschrieben. In Christus kann ich die Freiheit erleben, der Mensch zu werden, der ich vor Gott schon bin. Das ist eine Aufgabe, mit der ich zu keinem Zeitpunkt meines Lebens fertig bin.

Gleichzeitig hängt das Gelingen nicht von mir ab, sondern ist Geschenk, Gabe, Geist. Hinter dem Stichwort „Rechtfertigung allein aus Glauben“ verbirgt sich nichts anderes als eine Bildungstheorie. Nicht durch Werke, sondern durch Glauben, durch eine Hirn und Herz durchdringende Sicht der Dinge, werde ich auf die Spur Gottes gesetzt. Diese Sicht kann ich nicht machen, sie wird mir gegeben. Aber wenn ich mir geben lasse, was Gott zu geben hat, wird sich meine Haltung verändern. Ich werde mich aktiv einbringen in diese Welt. Ich werde erkennen, dass ich Gottes geliebter Mensch bin, der mein Leben will. Der alles Leben will. Der mich in eine Gemeinschaft stellt, die für das Leben steht und einsteht.

Damit ist klar: Bildung geschieht nicht im luftleeren Raum. Sie geschieht in Bezügen und hat viel mit Kommunikation zu tun. Nicht umsonst hält die Bibel die Gemeinschaft hoch, weil sie der Ort ist, wo Glaube sich entwickelt. Daher ist jeder Gottesdienst ein Bildungsakt, ist Gemeinde auch Bildungsgemeinschaft. In der Auseinandersetzung mit biblischem Wort und menschlicher Erfahrung, im gemeinsamen Fragen und in der gemeinsamen Suche nach Wahrheit bildet sich Glaube. Und der gebildete Glaube ist das Stichwort, mit dem die Reformation sich in die Reihe der Begründungszusammenhänge stellt, die bis heute gelten, wenn wir über Bildung sprechen.

Ein gebildeter Glaube ist für Martin Luther die Voraussetzung für eine mündige Gottesbeziehung. Ein Mensch muss verstehen, worum es beim biblischen Glauben geht. Und deshalb ist für Luther die Bildung so zentral. In seinem Gefolge machte sich Philipp Melanchthon als Schulgründer einen Namen und wurde damit zu einem der Väter allgemeiner und öffentlicher Schulbildung, die für jedes Kind – ob Junge oder Mädchen – möglich sein soll. Religiöse Bildung ist im Gefolge der Reformation nicht denkbar als Sondergut einiger weniger, sondern hat den Anspruch, jeden Menschen erreichen zu wollen.

Doch wo für Luther Wissen und Glaube, Herz und Verstand notwendig aufeinander bezogen waren, mutieren heute Wissenschaft und Glaube zu Gegensätzen. Wissenschaft und Forschung sind in der Lage, die Mechanismen der Welt zu erschließen, der Glaube ist etwas für die, die das noch nicht begriffen haben. Dieses Schlaglicht zeigt, dass sich die Rahmenbedingungen für Bildungsverantwortung im Lauf der Zeit verändern. Doch dass der Mensch im 21. Jahrhundert anders tickt als im 16. Jahrhundert, dass Gesellschaft heute anders ist als im Mittelalter, dass wir ein anderes Weltbild haben als die Damaligen, sind keine Hindernisse für Bildung, sondern Chance und Herausforderung.

Doch dazu müssen wir die Bedingungen kennen, in denen die Menschen leben, und offen sein für das, was sich ändert: Familienstrukturen, Kommunikationskultur, Arbeitswelt, Freizeitverhalten. All das muss uns kümmern. Dabei ist die Bewertung der zweite Schritt. An erster Stelle steht das aufmerksame Sehen und Wahrnehmen von Realität. Und auf dem Hintergrund der Haltungen und Werte, die uns als christliche Kirche wichtig sind, werden wir dann eine Haltung gegenüber den Entwicklungen einnehmen, die wir wahrnehmen.

In einer Gesellschaft, die immer mehr auf Leistung setzt, werden wir unser Menschenbild einbringen, in dem ein Mensch Wert und Würde hat, auch wenn er nichts leisten kann. In einer Welt, die ohne Digitalisierung gar nicht mehr funktioniert, wird man von uns Kriterien erwarten dürfen, wo die Welt der Bits und Bytes tatsächlich Fortschritt bringt und wo sie Menschen auf die Verliererstraße schickt. Wenn eine Sprache salonfähig wird, die das Netz zum großen und hässlichen Stammtisch mutieren lässt, vertreten wir eine Sprachkultur, die von Achtung geprägt ist. Und angesichts einer globalen Bedrohung von Um- und Mitwelt und der damit verbundenen Konflikte und Fluchtursachen sehen wir Gottes Auftrag zu Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Als Kirche stehen wir nach wie vor ein für Orientierungswissen, das Menschen hilft, sich in den Verwirrungen und Irritationen des Lebens zurechtzufinden.

Wir sind uns im Klaren darüber, dass und warum uns Bildung wichtig ist. Das so zu den Menschen und in die Gesellschaft hinein zu kommunizieren, dass es wahrgenommen und als Dienst an den Menschen ernst genommen wird, ist und bleibt Aufgabe. Wenn die Landesschülervertretung den Religionsunterricht für eine Engführung im Denken und Glauben hält, dann ist offensichtlich nicht klar, dass unser Religionsunterricht ganz im Gegenteil für Horizonterweiterung im Denken und Glauben steht. Wenn die kirchliche Trägerschaft von Kitas in dem Geruch steht, dass es nur um die eigene Nachwuchsgewinnung geht, dann ist offensichtlich nicht klar, dass gerade hier ein elementares Feld von interreligiösem und interkulturellem Lernen ist.

In einer pluralen Welt, in der sich viele zu Wort melden, soll unsere Stimme klar und unser Handeln transparent sein. Und das auch in Hinblick auf die, für die wir handeln. Dazu zählen auch die, die nicht genau wissen, was sich bei uns finden lässt. Viele unserer Brüder und Schwestern sind nicht notwendig an Kirche desinteressiert, wenn sie sich nur an Weihnachten im Gottesdienst blicken lassen, sondern ansprechbar für andere Formate und Formen der Kommunikation des Evangeliums, die wir zu bieten haben. Und nicht alle, die konfessionslos sind, sind notwendig religionslos, sondern auf der Suche nach dem, was sich für sie glauben und denken lässt. Bildung, wie sie uns aufgetragen ist, braucht ein weites Herz.

In diesem Sinne bin ich der festen Überzeugung, dass Bildung keine Randerscheinung kirchlichen Handelns sein darf, sondern ins Zentrum gehört. Ein Kirchenverständnis ohne Bildung gibt es nicht, wenn wir unsere Quellen und unsere Geschichte ernst nehmen.

Oberkirchenrätin Dorothee Wüst ist Bildungsdezernentin der Landeskirche. Den hier redaktionell gekürzten Vortrag hielt sie am 22. November vor der Landessynode.

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