Die Dokumentation: Die Rechte eines Christenmenschen

Evangelische Kirchen sollten Kirchenverfassungen eigene Grundrechte einfügen

Dem Recht auf Teilhabe entspricht die partizipatorische Struktur kirchlicher Ordnung. Foto/Screenshot: KB

Wenn man für den Bereich der eigenen Angelegenheiten der Kirche Grundrechte formuliert, so stehen diese kirchlichen Grundrechte nicht unverbunden neben den staatlichen. Wie diese lassen auch sie sich auf die Grundfigur von Freiheit, Gleichheit und Teilhabe zurückführen. Freiheit meint jedoch nicht nur die bürgerliche Freiheit, sondern die Freiheit aus Glauben; sie ist nicht eine selbstbezügliche, sondern eine verdankte und damit antwortende Freiheit. Gleichheit hat es nicht nur mit der Frage zu tun, wie Ungleichheiten gemindert werden können, sondern auch, wie Menschen sich in ihrer Verschiedenheit als Gleiche anerkennen und damit Beziehung der Über- und Unterordnung überwinden können. Teilhabe bedeutet, dass die aktive Mitwirkung an Aufbau und Gestaltung der Kirche nicht an einer Trennung zwischen Laien und Klerus ihre Grenze findet.

In den drei Hinsichten von Freiheit, Gleichheit und Teilhabe erweist sich somit das dreifache Gebot der Liebe zu Gott, zum Nächsten wie zu sich selbst als der Schlüssel zu den Regeln, an denen sich der Übergang von staatlichen zu kirchlichen Grundregeln messen lassen muss. Ausgehend von diesen Überlegungen schlage ich sieben kirchliche Grundrechte vor:

1. Das Recht auf Zugang zum Glauben. Jeder Mensch hat das Recht, das Evangelium zu hören und christliche Gemeinschaft zu erfahren.

Die Rechtsstellung jedes Menschen in der Kirche und gegenüber der Kirche ist in der Rechtfertigung vor Gott begründet, die den Glauben eröffnet und im Glauben angenommen wird. Das Grundrecht in der Kirche ist, dass Menschen erfahren, wer Jesus Christus ist; das Recht auf Zugang zum Glauben muss also als erstes Grundrecht genannt werden.

Nicht nur die Christen, sondern alle Menschen sind Träger dieses Rechts. Es gerät immer dann in Gefahr, wenn der öffentliche Charakter christlicher Verkündigung eingeschränkt wird und wenn Gemeinden den Charakter geschlossener Gruppen annehmen. Nicht nur dort wird es verletzt, wo die Religionsfreiheit und mit ihr die Möglichkeiten der Kirche zu öffentlicher Lehre und Verkündigung durch staatliche Gesetze oder gesellschaftlichen Druck eingeschränkt werden, sondern auch dort, wo eine Kirche selbst sich ihrer Pflicht zum Zeugnis und zum Dienst gegenüber allen Menschen entzieht, wo sie sich auf die „Versorgung“ ihrer Glieder beschränkt und damit zur Service-Kirche wird. Dem Recht auf Zugang zum Glauben entspricht die missionarische Struktur kirchlicher Ordnung.

2. Das Recht auf Würde und Integrität der Person. Die Würde eines jeden Menschen ist unantastbar. Sie kommt jeder menschlichen Person zu, weil sie zum Ebenbild Gottes geschaffen, durch Chris­tus versöhnt und berufen ist, als Erlöste am Reich Gottes teilzuhaben.

Daraus ergibt sich, dass alles Handeln der Kirche an der gleichen Würde aller Menschen seinen Maßstab hat. Unvereinbar mit diesem Recht sind alle Formen der Diskriminierung. Für innerkirchliche Konflikte ergibt sich aus der Integrität der Person, dass faire Verfahren, rechtliches Gehör und gerichtlicher Rechtsschutz sicherzustellen sind. Zum Schutz derer, die von der Kirche als Institution abhängig sind, müssen deshalb formalisierte Verfahren eingeführt oder weiterentwickelt werden. Dazu zählen neben den Regeln für rechtliche Auseinandersetzungen auch ein angemessenes kirchliches Mitarbeitervertretungs- und Arbeitsrecht.

Aus der Achtung vor der gleichen Würde aller Menschen ergibt sich der Einsatz der Kirche für alle, die der Hilfe bedürfen, um ein „eigener Mensch“ sein oder werden zu können; dem entspricht die diakonische Struktur der kirchlichen Ordnung.

3. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Jedes Glied der Gemeinde Jesu Christi hat das Recht, die ihm verliehenen Gaben frei zu entfalten. Die Entfaltungsfreiheit ist an den Auftrag der Kirche zu Zeugnis und Dienst gebunden und findet ihre Grenze an den Rechten anderer und an der Würde der Natur.

Die Freiheit des Glaubens ist mit der bürgerlichen Freiheit nicht identisch; sie ist nicht selbstmächtige, sondern responsorische Freiheit. Doch gerade diese Freiheit drängt auf verantwortliche Gestaltung. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gilt in der Kirche ebenso wie auch im Staat nicht schrankenlos; eine Durchsetzung des Einzelnen ohne Rücksicht auf den Auftrag der Kirche, auf die Rechte anderer und auf die Würde der Natur widerspräche der Freiheit des Glaubens selbst. Dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit entspricht die freiheitliche Struktur kirchlicher Ordnung.

4. Das Recht auf Gewissens- und Meinungsfreiheit. Die Freiheit des Glaubens und des Gewissens ist unverletzlich; jedes Glied der Gemeinde hat das Recht, seine Meinung ungehindert zu äußern und mit Achtung gehört zu werden.

Aus der Freiheit des Glaubens ergibt sich, dass kirchliche Lehre und kirchliches Bekenntnis nicht mit Zwang durchgesetzt werden dürfen. Die Kirche kann also nicht durch staatliche Machtmittel oder durch sozialen und psychischen Druck die Gewissensfreiheit beeinträchtigen. Denn um die Wahrheit kann nur mit geistlichen Mitteln gestritten werden. Das Recht der ganzen Gemeinde, sich an der Suche nach der Wahrheit zu beteiligen, gehört zur konziliaren Ordnung der Kirche. Andernfalls bleibt sie eine Theologen- und Pastorenkirche. Dem Recht auf Gewissens- und Meinungsfreiheit entspricht die konziliare Struktur kirchlicher Ordnung.

5. Das Recht auf Gleichheit. Alle Christen haben das gleiche Recht, am Leben der Kirche, gebend oder empfangend, teilzunehmen und vom Evangelium Zeugnis abzulegen, jede und jeder gemäß ihren Gaben.

Damit ist eine hierarchische Ordnung der Ämter in der Kirche unvereinbar. Dem Unterschied zwischen „Geistlichen“ und „Laien“ kann in der Kirche keine maßgebliche Bedeutung zukommen. Die Beauftragung der ordinierten Geistlichen mit der Verkündigung des Evangeliums und der Verwaltung der Sakramente begründet keine Herrschaftsposition. Vielmehr beruht dieser Dienst auf einem der ganzen Kirche anvertrauten Auftrag, auf der Vielfalt der Gnadengaben sowie auf einer besonderen kirchlichen Beauftragung. Dem Recht auf Gleichheit entspricht die genossenschaftliche Struktur kirchlicher Ordnung.

6. Das Recht auf Teilhabe an kirchlichen Entscheidungen. Jedes Glied der Gemeinde hat das Recht, an allen ihm zugänglichen Lebensäußerungen der Kirche aktiv mitzuwirken.

Aus der Gliedschaft aller Christen am Leib Christi ergibt sich, dass die Entscheidungen über die Ordnung und den Dienst der Kirche auf allen Ebenen nicht exklusiv von Amtsträgern gefällt werden dürfen, sondern in der Verantwortung aller Betroffenen liegen; Partizipation ist ein Grundelement der kirchlichen Ordnung. Wo der Kreis der unmittelbar Betroffenen zu groß ist, wird diese Verantwortung durch gewählte Vertreter wahrgenommen. Doch ist bei einer solchen Delegation immer wieder neu zu überprüfen, ob für die inhaltliche Rezeption getroffener Entscheidungen durch die Gemeinden Sorge getragen wird. In diesem Sinn ist eine ständige Fortentwicklung der Formen presbyterialer und synodaler Vertretung notwendig. Dem Recht auf Teilhabe entspricht die partizipatorische Struktur kirchlicher Ordnung.

7. Das Recht auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Alle Christen haben das Recht, Vereinigungen zu bilden und sich zu besonderen Vorhaben friedlich zu versammeln. Dieses Recht hat dort seine Grenze, wo die Gemeinschaft in der Kirche missachtet und die Spaltung angestrebt wird.

Berufsgruppen können vom Recht auf Vereinigungsfreiheit ebenso Gebrauch machen wie Initiativgruppen. Ebenso kommt in den vielfältigen Lebensäußerungen von Ortsgemeinden das Recht der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zum Ausdruck. Aufgabe der kirchlichen Ämter ist es, die Wahrnehmung dieses Rechts zu fördern und dafür Sorge zu tragen, dass die verschiedenen Gruppen in der Kirche miteinander im Austausch bleiben und sich so wechselseitig bereichern. Dem Recht auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit entspricht die kommunikative Struktur kirchlicher Ordnung.

Es ist zu wünschen, dass evangelische Kirchen ihren Kirchenverfassungen eigene Grundrechtsbestimmungen einfügen. Das kann zu einer Entwicklung beitragen, die eines Tages in eine „Ökumenische Erklärung kirchlicher Grundrechte“ mündet, die sinnvollerweise mit einer ökumenischen Erklärung zu den Menschenrechten korrespondieren sollte. Wahrscheinlich werden die Kirchen sich auf das Zweite leichter verständigen. Forderungen an die „Welt“ fallen ihnen leichter als Forderungen an sich selbst. Es fällt ihnen oft leichter, „der Stadt Bestes zu suchen“, als sich Rechenschaft darüber abzulegen, dass sie selbst eine „Stadt auf dem Berge“ sind.

Wolfgang Huber ist emeritierter Theologieprofessor und ehemaliger Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Der Vortrag wurde bei der Tagung der kirchlichen Gerichte in Landau gehalten.

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