Der Weg von Bethlehem nach Rom

Für den Evangelisten Lukas bricht mit der Geburt Jesu Gottes Heilsgeschichte in die Weltgeschichte ein

Die Heiligen Drei Könige beten das Jesus-Kind an: Aus dem Freskenzyklus von Giotto di Bondone in der Arenakapelle in Padua, 1304 bis 1306. Foto: wiki

Der wohl bekannteste biblische Text zu Weihnachten ist der Bericht über die Geburt Jesu in Lukas 2. Das Ensemble der handelnden Figuren – Maria und Joseph, das Kind, die Hirten, der Engel – prägt unsere bildliche Vorstellung der Geburtsszene, wie sie in vielen Haushalten und Kirchen in Weihnachtskrippen ihre Darstellung findet. Fast immer werden die genannten Personen noch ergänzt durch Ochs und Esel, obwohl über die nichts berichtet wird, ebensowenig wie über die Heiligen Drei Könige, die ebenfalls zur Ikonografie der Weihnachtsgeschichte gehören. Auch der Ort, der Stall mit Krippe, darüber der Stern von Bethlehem, ist fast so etwas wie ein Teil des kulturellen Gedächtnisses des Abendlands.

Beim Vergleich der Geburtsgeschichte im Lukas-Evangelium mit der vertrauten Krippenszene zeigt sich dort jedoch eine stark reduzierte Weihnachtsgeschichte. Zieht man Ochs und Esel ab, die eine Zugabe aus der Zeit der Romantik sind, weil Ochs und Esel in der Vorstellung des 19. Jahrhunderts einfach in einen idyllischen Stall hineingehören, dann kann man die Krippenszene auf zwei Evangelien aufteilen: auf das Lukas-Evangelium und auf das Matthäus-Evangelium, aus dem der Stern von Bethlehem und die Heiligen Drei Könige übernommen sind. Das Matthäus-Evangelium ist mehr noch als das Lukas-Evangelium interessiert an der Kontinuität zum Alten Testament. Dort wird der Geburt Jesu ein Stammbaum vorgeordnet, der Jesus über den König David bis auf Adam zurückführt. Die Heilige Familie im Stall von Bethlehem ist somit eine Komposition aus zwei verschiedenen Weihnachtsgeschichten.

Bei Lukas bleiben folgende Essentials übrig: Ein armes Ehepaar, das kein Geld für ein Zimmer in der Herberge hat, muss wohl in jenem Teil der Herberge übernachten, der eigentlich für das Vieh bestimmt ist – und ausgerechnet in dieser Nacht bekommt die hochschwangere Frau ihr Kind. Dann kommen Hirten, die über einen göttlichen Boten informiert wurden, dass dieses Kind der langersehnte Retter aus dem Geschlecht des Königs David ist, auf den zumindest Teile des jüdischen Volks damals gewartet haben. Die Hirten erzählten dann weiter, dass dieses Kind der ersehnte Retter und Heiland ist. So soll sich die Geschichte der Geburt Jesu zugetragen haben aus der Perspektive eines Erzählers, der gut 80, vielleicht sogar 100 Jahre später darüber geschrieben hat.

Der Evangelist Lukas hat aber nicht nur den Anspruch, eine Geschichte zu erzählen; er ist der erste christliche Chronist, der Geschichte schreiben will. Nicht einfach eine Story, sondern History. Geschichtsschreibung war damals aber noch keine Wissenschaft wie heute, sondern ein absichtsgeleitetes Unternehmen einzelner Menschen, die im Dienste anderer die Größe eines an sich eher kleinen Ereignisses beweisen wollen; dafür stellen sie es in den Zusammenhang des großen Laufs der Welt. In diesem Sinne will Lukas im Dienste der sich immer weiter ausbreitenden und langsam aber sicher unüberschaubar werdenden Kirche erzählen, wie ein Ereignis, das im hintersten Winkel der Welt passiert ist, innerhalb kürzester Zeit bis ins Zentrum der damals bekannten Welt, nämlich in die Hauptstadt Rom, vorgedrungen ist. Gleichzeitig will er ein theologisches Werk schaffen, das verdeutlichen soll, welcher Strategien sich Gott bemächtigt hat, um seine erlösende und befreiende Botschaft über den engen Kreis des jüdischen Volks hinaus der ganzen Welt mitzuteilen. Das ist die Absicht seiner beiden literarischen Werke: dem nach ihm benannten Evangelium, das mit der Auferstehung Jesu endet, und der Apostelgeschichte, die mit der Himmelfahrt Jesu beginnt und mit der Ankunft des Apostels Paulus in Rom endet.

Lukas war zwar kein gelernter Historiker wie etwa sein in römischen Diensten stehender jüdischer Zeitgenosse Flavius Josephus. Er war einfach ein gebildeter Mensch, vermutlich ein Arzt, der Griechisch sprechen konnte. Bei seiner Geschichte der Ausbreitung des Christentums konstruierte er Zusammenhänge, die so nicht existieren konnten. Im ersten Kapitel seines Evangeliums, wo die Geburt Johannes des Täufers angesagt wird, der höchstens ein Jahr älter gewesen sein dürfte als Jesus, wird Herodes der Große als König benannt. Der starb aber schon im Jahr 4 vor Christus. Josef und die schwangere Maria reisen von Nazareth in Galiläa, das ganz im Norden Israels liegt, nach Bethlehem im Süden wegen einer Volkszählung, die angeblich vom römischen Kaiser Augustus angeordnet wurde. Der hat aber nie eine Volkszählung angeordnet, sondern es gab, schenkt man Flavius Josephus Glauben, nur eine regionale Zählung, die vom Statthalter Quirinius angeordnet wurde, der in Lukas 2 genannt wird. Quirinius war jedoch erst in den Jahren 6 bis 7 nach Christus römischer Statthalter in Syrien, zehn Jahre nach dem Tod des Herodes. Es wird deutlich: Vieles in der Profangeschichte des Vorderen Orients der damaligen Zeit passt nicht zur zeitlichen Einordnung, die Lukas vornimmt.

Warum gibt Lukas sich aber solche Mühe, nicht einfach eine Story, sondern History zu schreiben, obwohl er die geschichtlichen Zusammenhänge nur so ungefähr und nicht genau kennt? Nun, Lukas will zeigen, dass und wie die Geschichte Gottes in die Geschichte der Menschen einbricht. Es sind sozusagen zwei Stränge, die zusammenfinden: Die Geschichte, die Menschen machen, die Geschichte der jüdischen Könige, der römischen Kaiser und Statthalter zum einen; zum anderen aber die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel, die mit der Geburt Jesu in die von Menschen gemachte Geschichte eindringt und diese von genau dem Zeitpunkt an begleitet. Von der Geburt Jesu an beeinflussen sich beide Geschichtsstränge gegenseitig. Mit dieser Geburt ist die bisherige Zeit, nämlich die Zeit des Volks Israel und der Propheten, an einem Zielpunkt angelangt, auf den alles bisher hingedeutet hat und zugelaufen ist. Dieser Zielpunkt ist aber nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas Neuem. Die bisherige nationale Geschichte Israels überschreitet ihre räumlichen Grenzen und tritt in die Weltgeschichte ein.

Folgt man Lukas, dann lenkt ab der Geburt Jesu Gott diese Weltgeschichte. Er schafft diese Verschränkung, indem er die profane Geschichte, die Menschen machen, in den Dienst seiner Heilsgeschichte stellt. Das Gebot des Kaisers Augustus, „dass alle Welt sich schätzen ließe“, hat ganz offensichtlich nur einen einzigen Sinn. Es soll erklärt werden, warum Jesus, der in Nazareth aufgewachsen ist, in Bethlehem zur Welt kommen musste. Nach dem Zeugnis der alttestamentlichen Propheten soll der Retter, der Messias, eben aus Bethlehem kommen, weil das die Stadt Davids ist, und der Messias ein Nachfahre Davids sein soll.

Für Lukas ist die Geburt Jesu die „Mitte der Zeit“, wie es der Theologe Hans Conzelmann einmal genannt hat. Es gibt ein Davor, und es gibt ein Danach. Bisher hat Gott die Geschichte des Volks Israel gelenkt, jetzt lenkt er die Geschichte seiner Kirche und führt diese innerhalb kürzester Zeit bis nach Rom. Das war für Lukas das nahe liegende Ziel; weiter konnte er zu seinen Lebzeiten auch noch nicht denken. Aber die Dynamik seiner Erzählung lässt erahnen, dass er selbst nicht damit gerechnet hat, dass in Rom schon Schluss sein werde.

In der Mitte der Zeit, nämlich mit der Geburt Jesu, erlebt die Geschichte der Welt und der Menschen so etwas wie einen Neustart. Das große weltgeschichtliche Ereignis, das alles neu anfangen, alles wieder „zurück auf Los“ setzen lässt, beginnt in einer Kleinstadt in der Judäischen Wüste in einem Stall. Die Handlungsträger sind arme Leute auf Durchreise, und diejenigen, die das große Ereignis als Erste in der Welt verbreiten, sind Hirten – Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Das ist die Weihnachtsbotschaft des Evangelisten Lukas. Martin Schuck

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