Das Kloster Alchi

Tibetische Wandmalereien sind um die 1000 Jahre alt und original erhalten • von Andrea Seeger

Das Kloster Alchis von ­außen, inmitten gewaltiger Berge.

Das älteste Gebäude Alchis ist der Dukhang (Versammlungshalle), entstanden kurz vor 1200. Hier zelebriert Lama Lobsang Tsültim gerade ein Ritual. Fotos: Peter van Ham/Hirmer-Verlag

Seine prachtvollen, gut erhaltenen Wandmalereien und der interessante Aufbau machen den Sumtsek wohl zu dem wichtigsten Gebäude der Anlage. Hier befinden sich drei riesige Statuen, eine davon ist Maitreya (links). Sie misst 4,60 Meter. Und tanzende Elefanten gibt es auch (rechts).

In Indiens Himalaya-Provinz Ladakh liegt auf 3500 Metern Höhe das tibetisch-buddhistische Kloster Alchi. Dort haben sich Tausende Bildwerke aus dem 11. Jahrhundert erhalten. Ihre künstlerischen und religiösen Einflüsse reichen weit über Tibet hinaus nach Indien, Zentralasien, in den Iran und sogar ins antike Griechenland. Dem Frankfurter Autor, Fotografen und Ausstellungskurator Peter van Ham gab der Dalai ­Lama eine Sondergenehmigung, Alchis Kunstwerke zu dokumentieren.

Das erste Mal in Nepal war Peter van Ham vor weit mehr als 30 Jahren. „Ich war gleich vom Himalaya berührt“, sagt er. Weiter ging es nach Tibet, ins Exil des Dalai Lama. „Das hat mich sehr fasziniert, die Mönche, das Gemurmel, die Umgebung“, blickt er zurück. Seit 1986 hat er die Gegend 30-mal bereist. „Eine tolle Landschaft“, findet er. Berge von 6000, 7000 Metern Höhe, Gletscher, Kargheit, getupft mit grünen Flecken der Gerstenfelder, kleine kubusartige Häuser aus Lehm, weiß getüncht, die Klöster sind rot.

Das Gebiet liegt zwischen dem indischen Subkontinent im Süden und dem Tibetischen Hochland im Norden, erstreckt sich etwa 3000 Kilometer von Pakistan bis Myanmar, ehemals Burma. Er mag die Menschen hier in diesem extremen Gebiet, sagt van Ham. Sie hätten es geschafft, in dieser Kargheit zu leben, seien dabei herzlich und freundlich. Diese Erfahrungen spiegeln sich für ihn im Glauben, der Religion, der Philosophie.

1993 hat der gebürtige Darmstädter Alchi zum ersten Mal gesehen. Seither versucht der Mann, der sein Geld als Grundschullehrer in Frankfurt verdient, das Kloster auf Bildern festzuhalten, es zu dokumentieren. Sein Traum seit Jahrzehnten. Alchi stehe unter archäologischem Schutz, für den Erhalt werde aber sehr wenig gemacht. Seit einiger Zeit hätten die Mönche das Heft wieder selber in die Hand genommen. Das war sein Glück. „Früher musste man sich an den archäologischen Dienst Indiens wenden. Das habe ich genauso getan, da ist nie etwas passiert“, erklärt van Ham.

Doch er kennt den Dalai Lama, das Oberhaupt der Tibeter. Dessen Bruder habe er auf einer Veranstaltung in Freiburg getroffen. „Ich habe ihm von meiner Kamera erzählt, die sehr speziell ist. Er war begeistert“, erklärt van Ham. Seit 50 Jahren wären alle möglichen Leute wegen des Klosters Alchi vorstellig geworden, das habe die Beteiligten genervt. „Wir machen es jetzt einmal richtig mit dieser guten Kamera und Peter van Ham, der uns gut bekannt ist“, lautete dann die Devise. Er habe ihnen sein gesamtes Material zur Verfügung gestellt. Sie könnten alles kostenfrei nutzen und seien an den Verkäufen des Buchs beteiligt. „Sonst hätte ich nie diese Genehmigung bekommen“, ist er sicher.

Wer an Klöster im Himalaya denkt, habe im Kopf vielleicht kubische Bauten auf monolithartigen Bergen mit prachtvoller Kulisse. „Das ist Alchi überhaupt nicht. Es ist ein flacher Bau mit sechs Lehmwürfeln, die in einem eingezäunten Bezirk stehen. Dort ist alles voll mit Aprikosenbäumen, drum herum Gerstenfelder in Grün, Pappeln, Weiden, das alles auf knapp 3500 Metern“, beschreibt der Fotograf van Ham die Außenansicht. Ihn interessiere besonders die frühe tibetische Kunst, die so stilreich, mit so vielen Einflüssen war. „Da gibt es nur eine Handvoll Klöster von, die hatte ich alle schon dokumentiert“, sagt er.

Alchi ist eines der ältesten Klöster Tibets. Es entstand in der zweiten Verbreitungswelle des Buddhismus von Indien nach Tibet, die um 1000 herum begann. Etwa ab dem 7. Jahrhundert hatte sich der Buddhismus zum ersten Mal in Tibet etabliert, die Königshäuser förderten ihn. Gleichzeitig dehnten die Tibeter mit erfolgreichen militärischen Feldzügen ihren Machtbereich aus, und Tibet wurde zu einem Großreich in Zentralasien.

Währenddessen regte sich aber der Widerstand der Adelsfamilien, die ihre ursprüngliche, den Königshäusern fast gleichwertige Stellung nach und nach verloren hatten. Anfang des 9. Jahrhunderts kam es zu einem Aufstand mit Königsmorden. Das machtvolle Großreich Tibet zerfiel in zahllose Splitterreiche. Der Buddhismus wurde unterdrückt oder an die Randgebiete gedrängt.

Kurz vor der Jahrtausendwende fingen Tibeter im Osten und im Westen an, sich für eine Wiederbelebung des Buddhismus einzusetzen. Sie suchten insbesondere den Kontakt zu Indien, Nepal und Kaschmir, um authentische Lehrer und Texte zu finden. Atisha, geboren 980 in Vikramapura, berühmter Abt der buddhistischen Klosteruniversität im indischen Vikramashila, wurde nach Tibet eingeladen. Umgekehrt machten sich Tibeter auf den mühevollen Weg zu buddhistischen Meistern und Lehrzentren, um Unterweisungen zu erhalten, Sanskrit zu lernen und Texte zu sammeln. Waren bisher religiöse Gebäude in Tibet eher Einsiedlerklausen, so entstanden in den kommenden Jahrhunderten große Klosteruniversitäten, um den neu erwachten Wissensdrang aufzufangen. In Tibet also gelangte der Buddhismus durch die zweite Verbreitung zu neuer Blüte, wurde fester Teil des tibetischen Lebens. Im Kaschmirtal passierte genau das Gegenteil. Hier florierten in den Jahrhunderten vor der Jahrtausendwende Buddhismus und Hinduismus. Das Tal war berühmt für seine weisen, häufig spirituelle Meister, die das Leben eines Yogis führten.

Um 1000 verschlechterte sich aber sowohl die innenpolitische als auch die außenpolitische Situation. Die Königshäuser setzten sich nicht mehr für den Buddhismus ein. Anhänger muslimischen Glaubens zerstörten die Kunstwerke, unterdrückten buddhistisches Leben. Eine Blütezeit an buddhistischer Kunst und Philosophie ging zu Ende. In dieser Situation waren kaschmirische Handwerker und Gelehrte nur allzu bereit, nach Westtibet zu gehen, wo sie willkommen und angesehen waren.

Die Malereien von Alchi zählen zu den bedeutendsten Kunstschätzen des westlichen Himalaya. Über acht Jahrhunderte blieben sie weitgehend in ihrem Originalzustand bewahrt und bezeugen bis heute die blühende buddhistische Kunst seiner Zeit. Künstler aus Kaschmir haben mit meisterhaftem Geschick Bilder geschaffen, die beeindrucken durch ihre reiche farbenfrohe Fülle und die vielen bis ins Feinste ausgearbeiteten Details. „Die Tibeter hatten Kontakte zu Menschen unterschiedlicher Kulturen. Die finden sich alle wieder in der Ausmalung der Tempel“, erklärt van Ham.

„Es gibt indische Anteile in den Malereien, zentralasiatische, persische, sogar griechische, was die Kunststile betrifft. Das liegt daran, dass Alexander der Große bis nach Indien gekommen war und in einer kleinen Region zwischen Afghanistan und Pakistan das griechische Kulturerbe die erste buddhistische Kunst gebildet hat“, führt er aus. Seinen guten Zustand verdankt dieses Kleinod buddhistischer Kunst mehreren günstigen Umständen. Dazu zählen das trockene Klima Ladakhs, das sich ausgezeichnet eignet, um Gemälde zu konservieren. Und die geografische Lage. Das Dorf Alchi liegt in Ladakh, 64 Straßenkilometer westlich von Leh, am Südufer des Indus. Es befindet sich auf einer Höhe von 3700 Metern. Alchi fällt weder in den Bereich, in dem durch Invasionen der Moslems alle buddhistische Kunst zerstört wurde, wie zum Beispiel in Kaschmir und in Nordindien. Noch gehört es politisch zu Tibet und hat somit auch keinen Schaden erlitten unter der Besatzung der Chinesen.

Außerdem war Alchi schon rund 150 Jahre nach seiner Errichtung als unbedeutendes Zweigkloster dem Mutterkloster Likir unterstellt. Es fiel in eine Art Dornröschenschlaf. Zu unbedeutend, um durch Übermalungen neuere Entwicklungen in den dargestellten Pantheon einzuarbeiten oder die Farben aufzufrischen. In den Räumen hätten sich nur wenige Menschen aufgehalten, keine brennende Butterlampen legten ihre Patina als dunklen Schleier über die Gemälde. Aus dem tiefen Schlaf sei es erst vor drei Jahrzehnten erwacht, als Ladakh für Touristen geöffnet und Alchi zu einer der bedeutendsten Sehenswürdigkeiten Ladakhs wurde.

Peter van Ham ist begeistert von diesem Kloster. „Man macht das Licht an und sieht Kunst, wie sie vor 1000 Jahren entstanden ist – leuchtende Farben blau und rot, wunderbare Malereien, dazu monumentale Skulpturen, die so hoch sind, dass sie ins zweite Stockwerk ragen. Und dann alles minutiös ausgemalt, mit Schattierungstechnik, in den kleinsten Miniaturmalereien von fünf Zentimetern. Das gibt es auf der ganzen Welt nirgendwo“, schwärmt er.

Beim Arbeiten hatte er immer einen Freund dabei. „Er hat in der Hauptstadt Ladakhs ein kleines Reisebüro, spricht Ladakhi und Englisch. So kommen wir miteinander klar“, erklärt der Himalaya-Forscher. „Man steht morgens um 6 Uhr auf, schleppt 25 Kilo Equipment in irgendwelche Räume, die stockfinster sind. Wir sehen immer nur das, was gerade durch das Tageslicht erleuchtet ist. In dem Buch sind Aufnahmen drin, die man so im Kloster selbst gar nicht sehen kann. Aber das ist im Kölner Dom auch so – als Fotograf, Dokumentarist kann ich die Dinge gut in Szene setzen. Wer das Buch hat, sieht also mehr“, macht er ein bisschen Werbung in eigener Sache. Sie hätten mit Kaltlicht gearbeitet, damit sie Bilder und Wandmalereien nicht in irgendeiner Form schädigen. „Im Sommer 2017 war ich dort vier Wochen, im Herbst noch mal zwei Wochen“, zählt er auf. Unterzukommen sei kein Problem gewesen. „Es gibt dort Gasthäuser, es kommen Busladungen voll Touristen.“ Mitgearbeitet hat die renommierte Tibetologin Amy Heller. Sie hat die komplizierten Inschriften Alchis entschlüsselt.

Mandalas spielen eine große Rolle in diesen Klöstern. Die Anordnung von Kreisen und Quadraten versteht van Ham als Meditationshilfen im Buddhismus oder auch im Hinduismus. Es handele sich um visionäre Schaubilder, die Menschen hatten auf ihrem Weg zur Erleuchtung. „Sie sind geometrisch angelegt, damit treffen sie sich mit mittelalterlichen oder antiken Vorstellungen, die es auch in Griechenland gab“, erklärt er. Platon zum Beispiel habe gesagt, dass die Geometrie der Weg zu Gott ist.

Ähnliche Vorstellungen gebe es, wenn Menschen sterben – als Nahtoderfahrung. Schon Hieronymus Bosch habe den weißen Tunnel gemalt, als Gang zum Himmel, durch den die Seelen zu den Engeln getragen werden. „Sie heißen nicht überall Mandalas“, sagt van Ham. „Wenn wir uns die Rosenfenster der gotischen Kathedralen anschauen, wo wir im Zentrum vielleicht Jesus Christus haben, darum die Engel oder die Apostel, dann hat man immer so eine Art Evolution. Man hat etwas Göttliches in der Mitte, das Ganze geht dann weiter, verzweigt sich, dann kommen die Heiligen und irgendwann die profane Welt.“

Peter van Ham (mit Amy Heller): Alchi – Treasure of the Himalayas. Hirmer Verlag, 2017. 422 Seiten, englischer Text, 600 Abbildungen in Farbe, 60 Euro. ISBN 978-3-7774-3093-5

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