Band-Probe unter Pinguinen

Die Überwinterer auf der antarktischen Neumayer-Station trotzen der selbst gewählten Isolation im Eis

Die Kaiserpinguinkolonie in der Atka-Bucht. Foto: AWI

Stationsleiter Klaus Guba. Foto: AWI

Georg von Neumayer.

Rund zwei Monate lang kein Sonnenlicht, gut ein halbes Jahr lang isoliert in einer Umgebung aus Schnee und Eis, die mit Durchschnittstemperaturen unter – 30 Grad zu Recht als „feindselig“ beschrieben werden kann: Was das neunköpfige Antarktis-Überwinterungsteam in der deutschen Forschungsstation Neumayer aushält, wirkt von außen betrachtet wie ein mentaler und körperlicher Kraftakt. Und doch ist es der schönste Platz zum Arbeiten.

Der letzte Satz stammt von Klaus Guba, Arzt und Stationsleiter auf der Neumayer-Station. Der 53-Jährige hat sich bewusst für dieses Abenteuer entschieden – und gegen seine Arbeit im Krankenhaus. „Das betriebswirtschaftliche Denken war da schon manchmal deprimierend“, sagt der gebürtige Münchner. Jetzt arbeitet er stattdessen im Dienste der Erforschung des Klimawandels an den Polen. Zwei Jahre läuft sein Vertrag beim Alfred-Wegener-Institut (AWI), im März wird er die Antarktis verlassen.

Dass mit ihm ein Chirurg und kein Psychologe den Posten des Arztes besetzt, hat pragmatische Gründe. „Ich muss im Zweifel einen Blinddarm operieren oder eine Sprunggelenksverletzung.“ Im antarktischen Winter kann niemand ausgeflogen werden. Stattdessen steht ihm ein kompletter OP zur Verfügung. Guba hat sich vor dem Einsatz am Pol in Zahnmedizin fortbilden lassen. Koch Wanderson aus Brasilien ist im Notfall ein Assistent.

Dennoch: Im Alltag spielt die Gruppendynamik auf engem Raum eine große Rolle. Die Überwinterer haben deshalb Konfliktmanagement und Kommunikation genauso trainiert wie das Zelten auf dem Gletscher. „Ironie vermeiden, das birgt Konfliktpotenzial“, nennt Guba einen der vielen Tipps.

Ganz wichtig ist zudem Struktur in der selbst gewählten Isolation, der Wochenrhythmus gehe sonst schnell verloren, sagt der Arzt. „Als im März wegen Corona alle Welt wissen wollte, wie das ist bei uns, hat sich das noch wie Urlaub angefühlt, wir waren ja erst ein paar Wochen hier“, sagt Guba. Inzwischen könne er das besser abschätzen. Konkrete Pläne für den jeweils nächsten Tag und feste Aktivitäten helfen, die Einförmigkeit der Tage zu überbrücken.

Montags ist „Sneak Movie night“, Dienstag Basketball, samstags ist Spieleabend, mittwochs probt die Stations-Band. Guba sitzt zu „Rockin‘ all over the world“ oder „What a wonderful world“ am Klavier. Keiner muss, jeder darf. Wer will, kann im Gewächshaus nach Tomaten, Salat, Radieschen und Kohlrabi sehen, die dort unter künstlichem Sonnenlicht wachsen. Nächstes Jahr soll ein Nasa-Mitarbeiter mit einziehen. Schließlich ist das hier erworbene Wissen wichtig für Missionen im All.

Während jeder meistens alleine frühstückt und zu Mittag isst, kommt das Team zum Abendessen zusammen, „wie eine Familie“, sagt Guba, Vater von zwei Töchtern. Der Kontakt nach Hause läuft via Satellitenleitung zum AWI nach Bremerhaven und von dort per Telefonleitung, die Verbindung ist glasklar.

Was dem Team guttut, sind die Fenster, die die ins Eis gebauten Vorgängerstationen Neumayer I und II nicht hatten. „Das war dann eher U-Boot-Feeling“, sagt Guba. Die jetzige Station steht auf Stelzen, um nicht eingeschneit zu werden. „Nachteil ist, du spürst die Stürme“, sagt der Stationsleiter. Orkanböen sind keine Seltenheit.

Dafür ist die Polarnacht keineswegs so dunkel, wie er geglaubt habe, sagt Guba. „Die mehrstündigen Dämmerungsphasen machen das Aushalten der fehlenden Sonne wesentlich leichter.“ Wenn die sich dem Horizont nähert, muss er lediglich zum Lesen Licht anmachen, liegt doch die Station auf 70 Grad südlicher Breite noch einiges weg vom Südpol. Die Folge der kurzen Sonnengastspiele vor Beginn der Polarnacht: „Ich habe so viele Sonnenauf- und -untergänge bewusst erlebt wie sonst nie in Deutschland.“

Und dann sei da noch die unberührte Wildnis, die bei gutem Wetter mit dem Motorschlitten erkundet wird: Weddell-Robben, Raubmöwen und die Kaiserpinguinkolonie, deren Tiere sich in der Mauser bis zur Station verirren. „Was wir alle gemeinsam haben, ist wahnsinniger Respekt vor der Natur“, spricht Guba für alle Teammitglieder.

Dass sie als letzter coronafreier Kontinent weltweit eine Sonderrolle spielen, sind sie sich trotz aller Freude stets bewusst. „Wir erkundigen uns natürlich, wie es unseren Familien geht.“ Daneben laufen länderübergreifend beim AWI Planspiele zu einer möglichen Infektion auf der Station. Schließlich wird ab Oktober das Team zu Beginn des antarktischen Sommers wieder vergrößert. Zumindest können aber dann von den präparierten Blaueispisten aus Flugzeuge Patienten notfalls ausfliegen.

Und ganz allein in der Antarktis sind sie auch nicht. Schließlich forschen die Südafrikaner 220 Kilometer entfernt. 250 Kilometer weit weg liegt die norwegische Troll-Station. Zum weltweiten Earth-Day im April teilten die Forscher im Netz Fotos, um auf den Klimawandel aufmerksam zu machen. An den Ostergrüßen wiederum beteiligten sich unter anderem die polnische, argentinische und indische Station. „Das macht auch Antarktika aus, ein friedliches Zusammenleben aller möglichen Nationen auf einem staatenlosen Kontinent, in dem man sich gegenseitig bei Bedarf unterstützt und schätzt.“ Florian Riesterer

Polarbegeisterter Pfälzer mit Adelstitel

Die Neumayer-Station in der Antarktis ist nach dem bayerisch-pfälzischen Wissenschaftler Georg von Neumayer benannt. Er wird 1826 als Georg Neumayer in Kirchheimbolanden geboren. Nach seinem Studium der Geophyhsik und Hydrografie in München führen ihn Seereisen nach Brasilien und Australien.

In Melbourne gründet Neumayer ein Observatorium für Geophysik, Magnetismus und Nautik. Ab 1864 lebt der Wissenschaftler wieder in Deutschland, nach der Reichsgründung 1870 als ­Hydrograf der Admiralität in Berlin.

Neumayer zeigt großes Interesse an der Südpolarforschung. 1879 wird er Vorsitzender der von ihm gegründeten Internationalen Polarkommission. 27 Jahre lang leitet er als erster Direktor die von ihm mitbegründete Deutsche Seewarte in Hamburg. Dort lernt unter anderem der spätere Polarforscher Roald Amundsen – 1911 als erster Mensch am Südpol – bei ihm. 1900 erhält Neumayer mit dem Komturkreuz des Verdienstordens der Bayerischen Krone seinen Adelstitel. Seinen Ruhestand verbringt er ab 1903 in Neustadt an der Weinstraße, drei Jahre vor seinem Tod gründet er eine eigene Stiftung unter anderem für Naturforschung. Neumayers Grab befindet sich auf dem Hauptfriedhof Neustadt.

In Neumayers Geburtshaus sitzt heute das Christliche Jugenddorf Kirchheimbolanden. Von dort aus ging auf Initiative der Struktur- und Genehmigungsdirektion Süd in Neustadt im September eine mit 70 Kisten Wein gefüllte Holzkiste Richtung Bremerhaven und weiter auf dem Eisbrecher „Polarstern“ auf den 14000 Kilometer weiten Weg Richtung Neumayer-Station. Geöffnet wurde das Geschenk zur Feier des Mittwinterfests am 21. Juni. Diese Tradition besteht seit 36 Jahren. flor

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