Alle über sich hinausgewachsen

Wie Rheinland-Pfalz im Herbst 2015 die Aufnahme Tausender Flüchtlinge der Balkanroute organisierte

Logistische Herausforderung für die freiwilligen Helfer: Essensausgabe in einer Flüchtlingsunterkunft. Foto: epd

Betten fehlen: Im Herbst 2015 sind viele Kommunen erst einmal überfordert und bringen Flüchtlinge in Turnhallen unter. Foto: epd

Kaum jemand in Rheinland-Pfalz hat so viel Erfahrung mit der Flüchtlingshilfe wie Behrouz Asadi von den Malteser Werken. Der Exil-Iraner, der einst selbst ein Flüchtling war, hilft seit über 30 Jahren anderen, in der Bundesrepublik Fuß zu fassen. Aber an eine Situation wie im Herbst 2015 kann auch er sich nicht erinnern. Wenn es damals in Mainz darum ging, Probleme bei der Versorgung der Neuankömmlinge zu lösen, waren Asadi und die Malteser meistens nicht weit. Und Probleme tauchten ständig auf. Einmal sei er 48 Stunden ohne Pause im Dienst gewesen, erinnert er sich: „Ich bin dann irgendwann auf einer Biertischgarnitur eingeschlafen.“

Im Sommer 2015 waren immer mehr Schutzsuchende über Griechenland und die Staaten des ehemaligen Jugoslawien zunächst nach Ungarn gelangt. Anfang September beschloss die Bundesregierung, ihnen die Weiterreise zu ermöglichen. Im Laufe eines einzigen Jahres erreichten so rund 890000 Flüchtlinge Deutschland – zumeist über die bayerisch-österreichische Grenze. Von dort wurden sie auf die Republik verteilt. Für Rheinland-Pfalz bedeutete das bis zu 1000 Neuankömmlinge am Tag.

Einen nächtlichen Sonderzug aus Bayern nahm die damalige Integrationsministerin Irene Alt in Ingelheim selbst in Empfang. Die Bilder der erschöpften Menschen in Flipflops, die nicht mehr als eine Plastiktüte bei sich trugen, haben sich ihr eingebrannt. Verzweifelte Eltern seien dabei gewesen, die auf der Flucht ihre Kinder verloren hatten. „Es sind damals alle über sich hinausgewachsen“, sagt sie über die Arbeit von Wohlfahrtsverbänden, Rettungsdiensten und anderen Helfern.

Angst, dass die Herkules-Aufgabe – anders, als von Bundeskanzlerin Merkel versprochen – möglicherweise nicht zu schaffen wäre, hatte auch Asadi nicht. „Ich habe diese Angst durch die praktische Arbeit verloren“, sagt er. Außerdem sei damals zum einen die Flüchtlingsaufnahme politischer Konsens gewesen und andererseits auch eine riesige Welle der Hilfsbereitschaft durch Deutschland gegangen. Überall hätten Ehrenamtliche mithelfen wollen: „Wir haben einmal auf Facebook um eine Thermoskanne gebeten und hatten drei Stunden später schon 20 Stück.“

Detlef Placzek, damals Vizepräsident im Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung, wurde wenige Tage nach der „Grenzöffnung“ zu einem dringenden Gespräch in die Mainzer Staatskanzlei gebeten. Worum es gehen würde, wusste er noch nicht, als er sich auf den Weg machte. Vor Ort erfuhr er dann, er solle eine Funktion als Flüchtlingskoordinator der Landesregierung übernehmen – ein Thema, mit dem Placzek inhaltlich bis dahin nur wenig zu tun hatte: „Was das konkret bedeuten würde, wusste ich noch nicht.“

Gefragt waren seine Managerqualitäten. Placzek musste dafür sorgen, dass Flüchtlinge in Rheinland-Pfalz nicht auf der Straße landeten. Das war einfacher gesagt als getan: Zu Beginn gab es in Rheinland-Pfalz gerade einmal zwei Erstaufnahme-Stellen, dort waren bald nicht nur alle Zimmer, sondern auch die Flure belegt. Anfangs überlegte Placzek sogar, die Halle des Mainzer Hauptbahnhofs als Notnachtlager zu konfiszieren. Innerhalb weniger Monate stampfte die Landesregierung mit ihren Partnerorganisationen 20 Erstaufnahme-Einrichtungen aus dem Boden. Irgendwann habe er aufgehört, Liegenschaften mit Platz für weniger als 1000 Menschen zu prüfen, erinnert sich Placzek. Kritik vonseiten einiger Flüchtlingshelfer, das Land schaffe extra schlechte Lebensbedingungen, um Flüchtlinge abzuschrecken, habe ihn damals sehr verletzt, sagt er. Tatsächlich hätten alle Beteiligten bis zur Erschöpfung versucht, das Menschenmögliche zu leisten.

Dass die Aufnahme funktionierte, sei auch der Bundeswehr zu verdanken: „Es gab viele Situationen, in denen ich gesagt habe: ,Ich bin stolz auf Deutschland.‘“ An den Orten geplanter Aufnahmestellen mussten auch Bürger überzeugt werden. Vor allem im Westerwald brodelte es, wo 5000 Flüchtlinge auf dem Bundeswehr-Gelände Stegskopf Unterkunft finden sollten. Placzek wollte die Menschen damals nicht in Turnhallen schicken, wo es für die Privatsphäre nur ein aufgespanntes Bettlaken gegeben hätte. Auch Zelte für die Winter­zeit hielt das Land nicht für akzeptabel – im Vergleich dazu seien die abgelegenen, aber noch intakten Kasernen eindeutig die bessere Wahl gewesen. „Der Stegskopf war wirklich geeignet“, versichert der heutige Landesamts-Präsident.

Auch an kuriose Situationen denkt der ehemalige Flüchtlingskoordinator zurück, etwa an einen LKW, der mit einer dringenden Feldbettenlieferung auf halber Stecke stehen blieb – wegen des deutschen Sonntagsfahrverbots. Die Polizei habe unbürokratisch dafür gesorgt, dass der Fahrer sein Ziel doch noch schnell erreichte. Weniger gut habe hingegen die Registrierung der Flüchtlinge funktioniert, für die der Bund zuständig gewesen sei. „Da hätte man sich schon gewünscht, dass das geordneter abläuft“, findet Placzek. Wäre schneller klar gewesen, wer eigentlich nach Deutschland gekommen war, hätte das auch für größere Akzeptanz in der Bevölkerung gesorgt.

Fünf Jahre nach der so titulierten „Flüchtlingskrise“ habe Deutschland viel erreicht, glaubt Behrouz Asadi. Aber die Integration der Geflüchteten sei noch längst nicht abgeschlossen: „Die Flüchtlinge denken anders, weil sie in einer anderen Kultur aufgewachsen sind.“ Bei den Maltesern habe er Wert darauf gelegt, allen Neuankömmlingen die deutschen Grundwerte nahezubringen, insbesondere die Rechte von Frauen. Dabei griff Asadi auch gelegentlich zu Tricks: Als mutmaßlich männliche Heimbewohner mehrfach Plakate zur Gewaltprävention in einem unbemerkten Moment von den Wänden rissen, ließ Asadi die Informationen kurzerhand in der Frauentoilette aufhängen. Und als der Bundesliga-Club Mainz 05 Freitickets für Asylbewerber stiftete, bestand er darauf, dass zuerst Frauen ins Stadion gingen.

„Ich hoffe, dass ich noch erleben kann, dass diese Menschen die Gesellschaft mitgestalten“, sagt Asadi. Unter den Flüchtlingen von 2015 habe er ­viele, auf verschiedenste Weise talentierte und hoch motivierte Menschen kennengelernt. Nach den Erfahrungen von 2015 ist er sicher, dass die Bundesre­publik auch die Flüchtlinge von den griechischen Inseln aufnehmen könnte. Nach wie vor erreiche weiterhin nur ein kleiner Teil der weltweiten Flüchtlingsströme Europa, gibt Asadi zu bedenken. Dass sich eine Situation wie 2015 noch einmal wiederholt, halten die „Macher“ von 2015 für unwahrscheinlich. Für das Flüchtlingsproblem gebe es nur eine europäische Lösung, sagt Irene Alt: „Ich hätte kein Problem damit, wenn Deutschland den Vorreiter macht, aber es müssen andere nachziehen.“ Karsten Packeiser

Meistgelesene Artikel